Berührt einen das gesellschaftliche und insbesondere das politische Geschehen wenig (die immergleichen Langweiler streiten sich um Geld und Privilegien), entgeht einem leider auch für unsere Zeit Kennzeichnendes, worauf der 1972 in Kiel geborene Knut Cordsen hinweist. "Ich habe, wie man das halt so macht als Journalist. mitgeschrieben, wenn mir Dinge auffielen, wenn es mir merkwürdig vorkam, wie meine Mit- und Nebenmenschen redeten. Nebenmensch trifft es oft besser als das eingemeindende 'Mitmensch.'" Der Begriff Nebenmensch geht übrigens auf Goethe zurück – dieses Buch ist auch eine lehrreiche Lektüre.
Stand Jetzt "möchte nicht verdammen, es möchte erheitern", so der Autor in seinem Vorwort. Und, um es gleich vorwegzunehmen, das tut es auch. Doch es tut noch mehr: Es klärt auf, denn wie wir uns ausdrücken, verrät nicht zuletzt wie wir denken bzw. wie wir gerne wahrgenommen würden.
Politiker machen uns heutzutage Angebote. Damit präsentieren sie sich als das, was sie sind: Verkäufer. Die Verkäuferin Annalena Baerbock sagt es so: "Ich möchte heute hier mit meiner Kandidatur ein Angebot machen, für die gesamte Gesellschaft. Dass wir Zukunft gestalten, das ist mein Angebot, das ist unser Angebot, dafür treten wir an."
Neben dem Angebot ist auch "das Aus" ein ziemlich inflationär gebrauchter Begriff, der vom "Pokal-Aus" bis zum "Kriegs-Aus" geht und massgeblich von der Bild-Zeitung, dem Zentralorgan der Niedertracht (so Max Goldt), befördert worden ist.
Wir leben in einer Zeit, "die nicht anders als zuckerwattiert zu charakterisieren ist", meint Knut Cordsen, der festgestellt hat, "dass der auf -ie endende Diminutiv immer weitere Kreise zieht." Von Messie bis zu Selfie. Sprache diente eben schon immer auch dem Verschleiern. So lügen etwa britische Politiker nicht, sie pflegen einen ökonomischen Umgang mit der Wahrheit.
Schon mal von Brandmauerspechten und Brandmauertoten gehört? Nun ja, es gibt sie nicht. Dafür gibt es nicht wenige, die definitiv nicht wissen, wovon sie reden, wie die Ausführungen zur Brandmauer klarmachen. Stand Jetzt, mit seinen vielen Beispielen aus der deutschen Politik, kann mit Gewinn auch als Einführung in die inszenierte Politik gelesen werden.
Zur den ausgeprägsten Fähigkeiten des Menschen zählt der Selbstbetrug. Was sich auch in Begriffen wie "gottoffen", "zukunfstoffen" und "ergebnisoffen" zeigt, denn es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die sie benutzen, sie nicht anwenden. Wer glaubt, was er sagt. so sinngemäss einst Konrad Adenauer, ist ungeeignet für die Politik.
Zu meinen Favoriten gehören die Ausführungen zu "fair", einem Begriff, der wohl auch deshalb Eingang in die englische Sprache gefunden, weil er selten praktiziert wird. Die Evangelische Kirche Deutschlands sieht das anders, hoffnungsfroher; sie bezeichnete 2007 "fairgeben – fairsorgen – fairteilen" als "Gottes Spielregeln für eine gerechte Welt." Treffend kommentiert Autor Cordsen: "Mas kann es für eine Ausgeburt des Kulturprotestantismus halten."
Stand Jetzt ist eine überaus gelungene Bestandesaufnahme der heutigen Zeit bzw. des jetzigen Moments, in dem der militärische vom friedliebenden Helden abgelöst worden ist. "Heutzutage ist offenbar schon ein Held, wer am Wochenende Oldtimer spazieren fährt." Doch obwohl mittlerweile so ziemlich jede Tätigkeit als heldenhaft durchgehen kann (vom Sparhelden zum 'Delivery Hero'), ist der Pantoffelheld gänzlich aus der Mode gekommen. Unsere moderne Zeit verlangt Taten, und begnügt sich mit Worten.
Fazit: Geistreich, witzig und erhellend
Knut Cordsen
Stand Jetzt
Aus dem Wörterbuch meiner Mitmenschen
Kunstmann, München 2025



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