Wednesday, 26 April 2023

Alle unsere Farben

"Jede Kultur definiert Farben vor dem Hintergrund ihrer natürlichen Umgebung und klimatischer Begebenheiten, begreift sie im Kontext der eigenen Geschichte, Erfahrungen und Traditionen", schreibt Michel Pastoureau und in mir fragt es automatisch: Ist es 'meine' Kultur, die bestimmt, wie ich Farben sehe bzw. sie zu sehen habe? Doch dann lese ich: "Jeder und jede geht beim Thema Farbe von anderen Definitionen, Vorstellungen und Gewissheiten aus."

Alle unsere Farben ist ein erfreulich persönliches Buch, das der Autor als teilweise autobiografisch bezeichnet, und in dem er aufzeichnet, was er zwischen 1950 und 2010 als Zeitzeuge in Bezug auf Farben wahrgenommen und sich überlegt hat. Dabei sieht er sich als "ein Zeuge unter vielen, zwangsläufig voreingenommen, belehrend, eigenwillig und egozentrisch". was so recht eigentlich uns alle ganz wunderbar charakterisiert. Dass er jedoch nicht ein Zeuge wie irgendeiner ist, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass er sich wesentlich mehr farbige Gedanken macht als wohl die meisten. Dazu kommt: "Der Historiker weiss nur zu gut, dass die Vergangenheit nicht allein das ist, was die Erinnerung aus ihr macht. Erdachtes steht keineswegs im Gegensatz zur Wirklichkeit: Es ist weder ihr Gegenteil noch ihr Widerpart, sondern bloss eine weitere Realität – abweichend, fruchtbar, voller Melancholie, eine Realität, die unsere Erinnerungen komplizenhaft ergänzt."

Immer mal wieder halte ich verblüfft inne. So habe ich etwa darüber gestaunt (weil ich noch gar nie wirklich darüber nachgedacht habe), dass uns unser Vorname ein Leben lang klassifiziert. Oder dass Thomas von Aquin und Platon dick waren. Was das mit Farben zu tun hat? Nun ja, es gibt bekanntlich schlankmachende Farben. Übrigens: Die Farben, die wir tragen, haben sich im Laufe der Jahre kaum verändert. Woran liegt das? "Erstens erneuert niemand seine Garderobe komplett auf einmal, jeder achtet  beim Kauf neuer Kleidungsstücke darauf, dass sie gut zu den anderen passen, wodurch sich Farben kaum verändern. Zweitens gibt es, anders als manche Stylisten oder Soziologen glauben, weitaus mehr Menschen, die nicht durch Kleidung auffallen wollen, als solche, die es wollen.", so Michel Pastoureau.  Meine eigene Erklärung geht so: Der Mensch ändert sich ganz grundsätzlich nicht gerne und eigentlich nur, wenn er muss.

Michel Pastoureau wurde in eine Familie toleranter Bohemiens geboren. Von seinem Vater, der mit Salvador Dalis Frau Gala verbunden  war, erfuhr er unter anderem, dass "der kleine Dali" fast den ganzen Tag schlief, die meisten Bilder von Assistenten anfertigen liess und nur die allerletzten Arbeitsgänge selber vornahm. Alle unsere Farben ist überaus reich an solchen Geschichten. So wurde Pastoureau  als historischer Berater für einen von Éric Rohmers Filmen beigezogen. "Rohmer hatte nichts von dem, was wir gesagt, ausgewählt, verworfen oder festgehalten hatten, berücksichtigt."

Farben, so sagt man, reisen nicht gut. In Kulturen, in denen das Klima zum Leben draussen einlädt (zum Bespiel in Südostasien oder in Afrika), trifft man auf buntere Farben als etwa in Mitteleuropa. Als die DDR noch die DDR war, erlebte Michel Pastoureau vor allem Ostberlin alles als grau oder braun sowie ein senfiges Braungrauviolett, das er seither nirgendwo mehr angetroffen hat.

Bei Fragen nach der Lieblingsfarbe gibt es auf der Beliebtheitsskala in Europa einen eindeutigen Spitzenreiter. Blau, gefolgt von Grün. Die anderen Länder in der westlichen Welt teilen diese Vorliebe. In anderen Weltgegenden haben Menschen hingegen andere Vorlieben. So liegt in Japan Weiss vor Rot und Rosa, in China Rot vor Gelb und Blau. Und in Indien und der Indochinesischen Halbinsel sind vor allem Rosa und Orange populär.

Andererseits: Solche Umfragen sind nicht unproblematisch. Eine Lieblingsfarbe wofür? Für eine Tischdecke oder für Unterhosen? Und dann auch dies: Menschen in Schwarzafrika und Zentralasien finden es bei bestimmten Farbnuancen "mitunter entscheidender zu wissen, ob sie trocken oder feucht, weich oder hart, glatt oder rau sind, als darüber zu urteilen, ob sie in die Skala der Rot-, Blau- oder Gelbtöne hineinpassten. Farbe gilt nicht als ein Phänomen, das nur die Augen wahrnehmen. Farbperzeption steht in Verbindung mit anderen sensorischen Parametern, und daher sind 'europäische' Umfragen zur Beliebtheit von Fragen nicht immer sehr aussagekräftig."

Als Kulturgeschichte habe ich Alle unsere Farben nicht gelesen, vielmehr als Lebensrückblick anhand der vielfältigen Interessen des wunderbar neugierigen Autors, der von seinen Vorlieben und Abneigungen berichtet. Das ist auch deswegen spannend, weil wohl nicht jeder und jede seinen Geschmack teilt. So mag er etwa Stendhal nicht, ich hingegen schätze ihn. Seine Begeisterung für Flaubert finde ich wiederum ansteckend ...

Michel Pastoureau
Alle unsere Farben
Eine schillernde Kulturgeschichte
Wagenbach, Berlin 2023

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