Wednesday, 19 April 2023

Die Welt an sich

Es ist ausgesprochen selten, dass mich Bücher bereits bevor ich den ersten Satz gelesen habe, für sich einnehmen. Im Falle von Die Welt an sich liegt das am Edmund Husserl-Zitat, das der Einführung vorangestellt ist: "... Naturobjekte müssen vor aller Theorie erfahren sein." Für mich meint das: Sich freimachen von unseren Vorstellungen über uns und die Welt – und uns und sie so direkt wie möglich erfahren. 

Und dann dieser erste Satz von einer Klarheit, die von reflektierter Erfahrung zeugt: "Ich habe ein Geheimnis zu erzählen: Lebewesen sind keine Maschinen, es gibt keine Mathematik ausserhalb unseres Kopfes, die Welt ist real und keine Simulation, ein Computer kann nicht denken, Ihr Bewusstsein ist keine Illusion und Ihr Wille ist nicht frei."

So recht eigentlich drückt dieser Satz, der zusammenfasst, wovon dieses Buch handelt, genau das aus, was ich schon immer irgendwie so empfunden habe. Irgendwie meint: Ohne die Klarheit, dies so zu formulieren. Natürlich fehlt mir auch das Wissen des Autors. Ulf Danielsson ist Mitglied der  Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften, verkündet, wer den Nobelpreis für Physik erhält, und erläutert der Weltöffentlichkeit, für welche Leistungen die Preisträger ausgezeichnet werden. Vor allem ist er jedoch ein begnadeter Wissensvermittler.

Vieles, was Ulf Danielsson ausführt, ist mir neu ... und leuchtet mir ein. "Es gibt draussen unter den Sternen oder im Innersten der Atome keine Naturgesetze. Sie bilden lediglich einen Weg, um unser Wissen über das Universum zusammenzufassen. Die Natur ist, was sie ist, während wir als biologische Organismen so weit wie möglich versuchen, das, was wir sehen, zu verstehen." Mit anderen Worten: Wir haben die Naturgesetze konstruiert, um das Universum verstehen zu können. Aber das Gravitationsgesetz, das gibt es doch! Laut Newton schon, Einstein hingegen argumentierte mit der gekrümmten Raum-Zeit in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Relativitätstheorie. Was lerne ich daraus? Der Apfel fällt und kümmert sich nicht um unsere Erklärungen.

Unsere Weltsicht hängt davon ab, wer wir sind. "Wie wir das, was uns umgibt, systematisieren und als Konzepte formulieren, hängt davon ab, wer wir sind." Sieht also jeder und jede die Welt wiederum anders? Ja und Nein. Aufgrund unserer Anlagen erfahren wir die Welt ähnlich, auch wenn wir unterschiedliche Vorstellungen von ihr haben mögen. Wenn dem nicht so wäre, wäre Kommunikation  nicht möglich.

Um unser gängiges, doch irreführendes Weltbild darzustellen, nimmt Ulf Danielsson auch Bezug auf den Philosophen Hans Jonas (1903-1993), der in seinem  Buch  'Das Prinzip Leben' überzeugend dargelegt hat, wie der Mensch sich im Laufe seiner Entwicklung zu orientieren versuchte. Als die Wissenschaft entdeckte, dass die Erde nur einen kleinen Teil des Universums einnahm und das Leben eine Ausnahme war, änderte sich seine Weltsicht: Der Tod wurde nun die Regel und das Leben ein Mysterium, das es zu erklären galt. Dies war, so Jonas, die Geburt des Dualismus.

"Der Dualismus unterscheidet zwischen Körper und Seele, wobei der Körper aus vergänglicher Materie besteht, während die Seele spirituell und ewig ist." Auf dieser Grundlage entwickelten sich die modernen Wissenschaften. "Der Wissenschaftler hält sich ausserhalb der toten Welt der Materie auf und kann sie von einem sicheren, erhabenen und objektiven Standpunkt aus mit seinen empfindlichen Instrumenten erkunden und seine Ergebnisse in Form von mathematischen Gesetzen zusammenfassen."

.Diese Zweiteilung der Welt in beseelt/unbeseelt hält sich weiterhin, obwohl die Evolutionstheorie das Kontinuum des Lebens bewiesen hat.  Für Ulf Danielsson ist das innere Selbst so real wie jeder andere Gegenstand. "Wir können uns nicht ausserhalb der Welt stellen, wir sind als lebendige Körper mitten in ihr, und wir betrachten die Welt stets vom einzigen Standpunkt aus, der uns gegeben ist: von innen."

Wir leben in Zeiten, die ein neues Denken verlangen. Die Welt an sich illustriert dies überzeugend – ein erhellendes und horizonterweiterndes Plädoyer für eine Abkehr vom Dualismus und für eine Weltsicht, die in unserer subjektiven Erfahrung als organische Wesen gründet.

Ulf Danielsson
Die Welt an sich
Und wie wir sie begreifen können
Klett-Cotta, Stuttgart 2022

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