Wednesday, 5 April 2023

Die Welt der Pflanzen

In der Einleitung zu diesem sehr ansprechend gestalteten Band erwähnt Autor Stefano Mancuso auch den englischen Komponisten Edward Elgar (1857-1934), der einst gefragt wurde, woher seine Musik komme. "Ich denke, dass die Musik in der Luft liegt, sie ist allgegenwärtig, die Welt ist voll davon, und man nimmt sich einfach so viel, wie man braucht." Dasselbe gelte auch für die Pflanzen, so Mancuso, man müsse ganz einfach lernen, ihnen zuzuhören.

Von Second-Hand-Zeitschriften und antiquarischen Büchern ist er seit seiner Jugend angetan. Auf dem Marché du livre ancien et d'occasion Georges Brassens in Paris trifft er auf einen Gymnasiallehrer, der ihm immer die besten botanischen Bücher wegschnappt. Sie kommen ins Gespräch ... und ich als Leser tauche in eine mir vollkommen fremde Welt ein, von Freiheitsbäumen, Karten, Wurzeln ... 

"Die Parole der Französischen Revolution  liberté, égalité, fraternité  ist in keiner real existierenden menschlichen Gemeinschaft jemals vollständig verwirklicht worden. In den Pflanzengemeinschaften hingegen schon, denn durch die Netzwerke, die sie bilden, haben sie gelernt, in einem perfekten System gemeinschaftlicher Nutzung zu koexistieren."

Seine Faszination für Pflanzen hat Stefano Mancusos Horizont erweitert. So hat sie ihm zum Beispiel die Stadtplanung näher gebracht. Dabei hat er festgestellt, dass die Menschen zunehmend in Städten leben. Während im Jahr 1950 noch über zwei Drittel der Weltbevölkerung auf dem Land lebten, waren es im Jahr 2007 nur noch etwas weniger als die Hälfte. "Einander abwechselnde Phasen, in denen sich Pflanzen-und Tierarten ausbreiten und zurückziehen, sind durchaus normal. Befindet sich der Mensch vielleicht gerade in einer Phase des Rückzugs?"

Für den Botaniker Patrick Geddes (1854-1932) war die Stadt ein lebendiges Wesen. "Jede Funktion der Stadt, wie spezifisch sie auch sein mag, lässt sich mit den Bestandteilen eines lebenden Organismus vergleichen." Anstelle des Konkurrenzkampfes regiert das gegenseitige Helfen, und dieses garantiert das Leben bzw. das Überleben. Es sind solche Gedanken, die mir dieses Werk wertvoll machen.

Das Prinzip der Gegenseitigen Hilfe zeigt sich auch unter der Erde, wo komplexe Wurzelgeflechte miteinander verbunden sich und untereinander austauschen, was sie benötigen. Die Vorstellung von Bäumen als isolierten Individuen muss revidiert werden. Dass ausgerechnet ein Anarchist, der russische Fürst Pjotr A. Kropotkin, die Notwendigkeit miteinander zu kooperieren als Grundpfeiler der Evolutionsgeschichte, identifizierte, wird wohl nicht wenige überraschen. 

Die Welt der Pflanzen ... und wie sie Geschichte machen erzählt viele faszinierende Geschichten, die so recht eigentlich alle mit einer Pflanze beginnen. Die Fülle der Informationen ist riesig und geht von der Breite der Baumringe, die Rückschlüsse auf das Klima zulässt, das während des Wachstums herrschte, über die Tatsache, dass Antonio Stradivari aus einer einzigen Rotfichte 14 Geigen erschuf, zur Frage, weshalb man eigentlich auf einer Bananenschale ausrutscht (und nicht auf einer Orangen- oder Melonenschale, die genauso rutschig sein).

Das Leben ist ein Rätsel, das immer wieder Anlass zur Verwunderung gibt. Als ich vor einigen Wochen im südbrasilianischen Santa Cruz do Sul in Charles Lindberghs Schilderung seines Atlantikflugs las, ahnte ich nicht, dass ich einen Monat später in Stefano Mancusos Die Welt der Pflanzen ... und wie sie Geschichte machen wiederum auf  diesen Lindbergh stossen würde: "Das Holz für den Bau der Leiter, die bei der Entführung des Lindbergh-Babys verwendet wurde, stammte teilweise aus einem Wald in South Carolina." Da soll noch einer daran zweifeln, dass alles mit allem verbunden sei!

Fazit: Wunderbar instruktiv, ein Augenöffner.

Stefano Mancuso
Die Welt der Pflanzen
... und wie sie Geschichte machen
Klett-Cotta, Stuttgart 2023

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