Zuallererst: Der Titel In einer anderen Schweiz nervt mich, da er suggeriert, es gebe eine übliche, gängige Schweiz und dann diese andere, die der Fotograf Ueli Meier uns zeigt. Nun gut, jeder und jede bildet sich bekanntlich ein, die Dinge, alle Dinge, auf eine ganz eigene Art zu sehen und das mag ja auch durchaus sein, obwohl wir das so recht eigentlich nicht wissen können. Jedenfalls: Nicht wenige, der in diesem Buch versammelten Bilder stehen für mich für die übliche, gängige, ja geradezu offizielle Schweiz. Was könnte schweizerischer sein als das eidgenössische Schwing- und Älplerfest, ein Turnfest oder ein Zuchtstiermarkt?
Alfred Messerli, der das Vorwort verfasst hat, sieht das übrigens ganz anders: "Selbst wenn es uns entgeht oder wir es ausblenden: Wir leben tatsächlich in und neben mehreren Welten. Darauf verweist der Titel des vorliegenden Fotobands. Ein weiterer Begriff, der in diesem Titel mitgemeint ist oder doch anklingt und den Arbeiten Ueli Meiers zugrunde liegt, ist derjenige der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit ...". Letzteres klingt etwas arg akademisch in meinen Ohren.
Ich blättere vor und zurück, bleibe gelegentlich hängen und staune über den fotografischen Blick von Ueli Meier, der meinem Sinn für Ästhetik wohltut. Ganz speziell haben mir es die Aufnahmen des Wipkinger Viadukts und vom Escher-Wyss-Platz angetan, wohl auch, weil ich mal in Wipkingen gewohnt habe und gute Erinnerungen damit verbinde. Natürlich, ich rate nur, schliesslich weiss ich nicht wirklich, weshalb mich diese beiden Aufnahmen, die im Buch einander gegenübergestellt sind (eine gestalterische Meisterleistung) geradezu begeistern.
In einer anderen Schweiz ist in verschiedene Kapitel unterteilt, denen jeweils eine kurze und nützliche Erläuterung beigegeben ist. Die einzelnen Aufnahmen kommen hingegen zumeist ohne Legenden daher, eine zwar gängige, doch gänzlich unbefriedigende Praxis, speziell bei Fotoreportagen, die von der Kombination Bild/Text leben.
Was mir bei diesem Band vor allem fehlt, sind Erläuterungen des Fotografen, die mich darüber aufklären wie diese Aufnahmen zustande gekommen sind, in was für einer Stimmung er sich befunden hat, was ihn zu dieser Auswahl bewogen hat. Mangels solcher Aufklärung betrachte ich diese Aufnahmen allein nach dem Kriterium, ob mir die Bilder gefallen oder nicht.
Was mir gefällt, und zwar ausgesprochen gut gefällt, ist das fotografische Auge von Ueli Meier, wie er, was sich vor der Kamera befindet, einrahmt. Schliesslich ist es das Einrahmen von bereits Vorhandenem, was den Fotografen zum Fotografen macht.
So recht eigentlich spielt es keine Rolle, was Ueli Meier aufnimmt. Wie er es aufnimmt, ist entscheidender. Man sehe sich zum Beispiel die Kampfflugzeuge auf Seite 55 an. Warum mich dieses Bild anzieht, weiss ich nicht. Warum-Fragen (auf die man nur mit Interpretationen antworten kann) interessieren mich heute nur noch wenig. "Die elf Fotografien (zu denen auch die gerade erwähnten Kampfflugzeuge gehören) mit der Überschrift 'Truppenvorbeimarsch Infanterie Regiment 27 der Felddivision 6" (Mythenquai Zürich, 20 September 1984) sind eine visuelle Recherche über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Schweizer Armee anlässlich eines Defilees mitten in der Stadt Zürich", so Alfred Messerli. "Eine visuelle Recherche über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit"? Was auch immer das sein mag ...
In einer anderen Schweiz ist ein ungemein anregender Band. Nicht, weil es mir eine sogenannt andere Schweiz (verglichen mit welcher?) zeigt, sondern weil mir die Neugierde und Kreativität des Fotografen Ueli Meier (allein die Auswahl der Sujets zeugt davon) einen Blick auf Menschen eröffnet, auf die ich wohl selber kaum gekommen wäre. Etwa auf "Heimgekehrte Missionare der Missionsgesellschaft Betlehem SMB" oder "Junge Zürcher Millionärserben."
In einer anderen Schweiz ist ein sehr gelungener, höchstwillkommener Augenöffner! Und darüber hinaus ein wertvolles Zeitdokument.
Ueli Meier
In einer anderen Schweiz
Fotoreportagen 1980-2000
Scheidegger & Spiess, Zürich 2024
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