Eine junge Frau, die mit ihren Altersgenossinnen, die sich, "sei es durch Heimtücke oder überragendes Geschick, ihren Platz im Leben und in ihren Wunschberufen gesichert" haben, wenig gemein hat und als Hilfskraft in einer Anwaltskanzlei arbeitet, wird von ihrem Bruder, der, von seiner Familie verlassen, alleine in einem nördlichen Land lebt, gebeten, sich während seiner geschäftlich bedingten Abwesenheiten um seinen Haushalt zu kümmern.
Sie sagt zu, während der ersten Tage gehen ihr Kindheitserinnerungen und Gedanken an ihre Zeit in der Anwaltskanzlei durch den Kopf. "Man könnte sagen, dass mein mangelndes Interesse am Inhalt meiner Tätigkeit ein Versagen der Fantasie, wenn nicht gar einen Akt der Feigheit darstellte." Angesichts der Tatsache, dass die Kanzlei einen multinationalen Öl- und Gaskonzern vertrat, könnte man es allerdings auch als Selbstschutz sehen.
Der Bruder fährt weg, sie findet zur Ruhe. Ihre Sinne beginnen sich nach aussen zu richten, aufs Gras, die Äste. "Es war verwirrend, so regelmässig im Wald umherzuwandern, die verblüffenden und unmöglichen Veränderungen von einem auf den anderen Tag abzustecken. Mir wurde schwindlig von all dem. Ich hatte das Gefühl, mich an etwas Vergessenes zu erinnern. Zum einen war das der Wind. Zum anderen die Stille ...". Ganz wunderbar, diese Wahrnehmung, die auch deutlich macht, dass die Sinne vor allem hilfreich sind, wenn sie, wie es in ihnen angelegt ist, nach aussen gerichtet werden.
Die junge Frau spricht die Sprache der Gegend nicht. Obwohl sie sich Mühe gibt, und sprachlich talentiert ist, bleibt nichts hängen. Einkaufen kann sie zwar auch ohne zu reden, doch wie sie ihren Aufenthalt im Laden schildert, hat etwas Gespenstisches.
Sie denkt über das Leben von Kohlköpfen nach. Und über Grünkohl, Senfblätter und Knoblauch. "Ich war bemüht zu lernen, indem ich blieb, wo ich war." Ein Satz, bei dem zu verweilen sich lohnt, auch weil wohl die meisten unbewusst davon ausgehen, wer etwas lernen wolle, müsse weggehen. Die junge Frau scheint ihrer Bestimmung zu folgen. "Es war, als wäre ich angetrieben von einer äusseren Kraft, die mein Tun lenkte ...".
Sie erkundet die Gegend, und erlebt den Argwohn, den man Neuankömmlingen generell entgegenbringt in ihrem eigenen Fall als besonders zielgerichtet. "Ich kehrte von diesen Ausflügen erschöpft zurück, als hätte mich das Land, dem meine Anwesenheit bis dahin in jeder Beziehung gleichgültig gewesen war, schliesslich voller Unwillen bemerkt und arbeitete nun an meiner Vertreibung."
Die junge Frau war ihr Leben lang eine Aussenseiterin gewesen, "irgendetwas in meinem Blut vermittelte mir dieses Gefühl, und irgendetwas darin vermittelte auch anderen dieses Gefühl, dass ich irgendwie merkwürdig war, fremd, nicht vertrauenswürdig." Es gelte, notiert sie einmal, ihre aussergewöhnliche Überheblichkeit und Selbstliebe zu beugen. Auf mich wirkt sie jedoch überhaupt nicht so, auf mich wirkt sie, als ob sie ganz einfach ihren vorgegeben Weg geht, zu dem auch gehört, dass sie sich nicht unterordnen kann/mag/will.
Übung in Gehorsam kreist um eine Grundsatzfrage, die Frage der Zugehörigkeit, und ob diese ein Ort sein kann. Haben wir unser Schicksal in der Hand oder ist alles eine Frage der Vererbung? Gute Fragen zeichnen sich dadurch aus, dass man sie schwer beantworten kann. Doch darum geht es nicht, es geht um die Auseinandersetzung, und die vorliegende ist so hoch differenziert, dass es eine wahre Freude ist.
Was dieses Buch auszeichnet, ist das eigenständige Denken der Autorin, "Wie unausweichlich waren einmal beschrittene Wege! Aber wenn etwas geschehen konnte, und ja auch ständig geschah, folgte daraus nicht, dass genauso gut gar nichts geschehen konnte. Womöglich entwickelte man in späteren Jahren die Fähigkeit scharf zu bremsen, schliesslich stehenzubleiben und sich auf den Weg zu setzen, müde war man geworden, die Füsse waren wund, die Stiefel durchgescheuert." Soviel Hellsichtigkeit wünscht man auch anderen Romanen, denn obwohl ganz vieles vorgezeichnet scheint, die Möglichkeit, scharf zu bremsen gibt es ebenso, sofern man sie ins Bewusstsein lässt – und handelt.
Übung in Gehorsam ist ein sehr dichter, vielfältig anregender, philosophischer Roman, der unter anderem fragt, ob man weiterleben darf, weil man zufällig nicht umgebracht wurde und entkommen konnte. Um die Schlussfolgerung der jungen Frau wirklich schätzen zu können, sollte man sich mit diesem Buch auseinandersetzen.
Sarah Bernstein
Übung in Gehorsam
Roman
Wagenbach, Berlin 2025