Wednesday, 18 June 2025

Hiroshima

Den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki waren flächendeckende Brandbombenangriffe auf Tokio vorangegangen. "Bei den etwas mehr als fünf Monate dauernden Bombardements kamen nach offiziellen Statistiken insgesamt 269 187 Menschen ums Leben." Und dies obwohl die vorherrschende Meinung der amerikanischen Luftstreitkräfte in Sachen Flächenbombardement von Städten weder als moralisch vertretbar, noch als strategisch sinnvoll angesehen wurde. Wie kam es also 1945 zu einer solchen Radikalisierung der Kriegsstrategie? Und wie kam es zu den fragwürdigen moralischen Relativierungen, die darauf abzielten einen rücksichtslosen totalen Krieg zu rechtfertigen?

Natürlich kann man das letztlich nicht wissen, doch man kann wohlbegründete Vermutungen anstellen. Und genau dies tut Richard Overy, detailreich und differenziert. Einfache Erklärungen gibt es nicht, stellt er fest; die Kehrtwende, die sowohl zu den Flächenbombardements und zu den Abwürfen der Atombomben geführt haben, hat vielfältige Ursachen, nicht zuletzt der Druck, Resultate zu liefern, unter dem die Luftstreitkräfte standen.

"Der am häufigsten angeführte Grund für dieses Verhalten war der Ehrgeiz der Army Air Force, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Japan zu leisten, um mit den Anstrengungen der US Army in Südostasien und der US Navy im gesamten Pazifikraum mithalten zu können." Dazu kam die Rache an dem Feind. 

Da Rache nicht zu den edlen Gefühlen gerechnet wird, musste ein anderer Grund her, einer, der die Japaner abwertete und entmenschlichte. Sie wurden kollektiv wie Tiere angesehen, als Affen, Ungeziefer oder Insekten. Der Autor zitiert amerikanische Generale mit Worten, die (wie immer) mehr über sie selber, als über ihre Feinde aussagen. 

Die zweijährige Seeblockade der US Navy hatte Japan von den lebenswichtigen Rohstoff- und Öllieferungen abgeschnitten, die Zerstörungen und sozialen Umbrüche, die von den konventionellen Bombenangriffen verursacht wurden, führten jedoch nicht zur Kapitulation.

Niemals hätte man Tokio mit Bodentruppen angegriffen, das Risiko verwundet oder getötet zu werden, war viel zu gross. Geduld hatte man auch nicht. Und so entschied man sich, zu tun, was man heute noch tut: Grösstmöglichen Schaden anrichten, ohne dabei selber Schaden zu nehmen. Das funktioniert am ehesten, wenn man den Feind nicht mehr als Menschen wahrnimmt

 Richard Overy schildert aufwühlend, was  Bombenexplosion auf dem Boden anrichteten. Ein Feuersturm raffte alles hinweg, 92 Prozent der Gebäude der Stadt waren zerstört. "Die Verletzten und Toten konnten nicht fortgebracht werden, da es an Zügen und Fahrzeugen fehlte." Viele der Überlebenden machten nach Kriegsende die Erfahrung, dass sie ausgegrenzt wurden, denn die wenigsten wollten an den Krieg erinnert werden. Hiroshima zeigt auch eindrücklich, wie unterschiedlich in Japan und Amerika mit dem Abwurf der Atombombe umgegangen wurde.

"Die Entrüstung über den Überraschungsangriff auf Pearl Harbour beherrschte die Meinungen der Amerikaner über den japanischen Feind." Dass die Abwürfe der Atombomben eine Gräueltat war, wussten auch die Amerikaner, und so beeilte sich das amerikanische Militär, zu betonen, dass man Ziele angegriffen habe, die, in der Worten der Militärs, "ausreichend militärischer Natur waren, um nach den Regeln der zivilisierten Kriegsführung einen Angriff zu rechtfertigen." Unabhängige Berichterstattung wurde zensuriert, insbesondere über die Auswirkung der Strahlungen durfte nicht berichtet werden.

Hiroshima ist ein eindrückliches Werk, das uns vor allem vor Augen führt, dass der Mensch weder zivilisiert noch eine erfreuliche Spezies ist. Sein Talent zum Selbstbetrug ist sein grösstes. So behauptete Präsident Truman, der Abwurf der Atombombe über Hiroshima sei in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht erfolgt. Und: "Auf dem Stützpunkt segnete der Militärpfarrer die Crew vor dem Einsatz und bat Gott für sie um Kraft." !!! Man fasst es nicht, glaubte damals, so etwas sei nicht mehr möglich, doch der Mensch ist wie er ist, und solange er nicht ein anderer wird, wird sich niemals etwas ändern.

Überaus aufschlussreich (und desillusionierend) sind die juristischen Versuche, Bombenangriffe auf Zivilisten zu ächten. Definitionen, Interpretationen, Rechtfertigungen zuhauf. Die Haager Luftkriegsregeln, das Kriegsvölkerrecht, die Genfer Konventionen inklusive der Zusatzprotokolle – niemand hält sich dran. Die Hoffnung von Oppenheimer and anderen, "die Erfahrung einer einzigen Atombombenexplosion würde ausreichen, um eine Welt ohne Kriege zu schaffen", hat sich als Illusion erwiesen.

Richard Overy 
Hiroshima
Wie die Atombombe möglich wurde
Rowohlt Berlin 2025

Sunday, 15 June 2025

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland

Was wirklich auf der Welt los ist, erfahren wir nicht aus öffentlichen Debatten über Migration oder Neutralität, sondern aus gelegentlichen Blicken hinter die Kulissen. Dabei wird auch deutlich, dass vieles durchaus bekannt ist bzw. sein könnte, auch wenn es selten im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht. Dies versucht Schmutzige Geschäfte im Niemandsland zu korrigieren.

Atossa Araxia Abrahamian beginnt Schmutzige Geschäfte im Niemandsland mit dem Versuch, Genf, die Stadt ihrer Kindheit, zu beschreiben. Neben der offenkundigen Internationalität ("Fast die Hälfte der Genfer Bevölkerung stammt ursprünglich nicht aus der Schweiz.") ist da noch etwas anderes im Gange. etwas Unsichtbares. Sie legt dar wie ihre "Heimatstadt Genf und ihre Nation, die Schweiz, durch die Menschen, Kriege und Gesetze, die sie prägten, das Fundament für die heutige Welt geprägt haben. Sie werden entdecken, wie das Schweizer Modell andere Staaten dazu inspirierte  ..". Die Gründe dafür sucht sie in der Geschichte. Es ist dies der allgemein gängige Ansatz, der leider das wirklich Wesentliche (Was ist es, dass die Schweiz zu einer so erfolgreichen Hehler-Nation hat werden lassen?) aussen vor lässt, auch wenn er durchaus Interessantes zu Tage fördert.

Dass diese kleine Stadt und dieses kleine Land, von dessen Territorium sechzig Prozent nicht bewohnbar sind, zu einem derart mächtigen Offshore-Finanzplatz werden konnten, verwundert und befremdet.

Die Schweizer sind ein ausgesprochen geschäftstüchtiges Volk. Die Autorin zitiert dazu Jean Ziegler: "Sie verkauften ihre Landsleute als Söldner an ausländische Regierungen." Ziegler sieht die Schweiz als Ermöglicher des Kapitalismus hinter den Kulissen. Ein Ausfluss des Calvinismus? Auf jeden Fall wird dieses Land von einem sehr speziellen Geist regiert, zu dem eine ziemlich einzigartige Heimlichtuerei sowie das Fehlen eines Unrechtbewusstseins gehört.

Atossa Araxia Abrahamian lebt heute in New York, beschreibt also aus der Distanz "die Macht über die 41 000 Quadratkilometer und darüber hinaus", die in der Mitte Europas liegt. Mit dem Söldnerwesen wurde die gesellschaftliche Stabilität (aufrührerischen jungen Männern verschaffte man einen Arbeitsplatz und hielt sie fern des Heimatlandes) geschaffen, die die Schweiz auch heute noch auszeichnet. Dazu kam der Nationalcharakter, der sich durch die Fähigkeit, Regeln aufzustellen und Gesetze zu erlassen (26 Staaten mit je eigener Verwaltung, Regierung, Parlament für verhältnismässig wenige Leute) von anderen Staaten unterscheidet.

Doch nicht nur von der Schweiz ist die Rede, sondern auch von Singapur, Luxemburg, La Réunion mit seiner Exportproduktionszone, den Offshore-Asyllagern auf Manus und Nauru, Boten und Spitzbergen. Ob dabei globale Unternehmen und Superreiche Regierungen austricksen, wie der Untertitel behauptet, finde ich jedoch fraglich; mein Eindruck ist, dass diese Exterritorialität, geschaffen mit juristischen Tricks, von den Regierenden durchaus gewollt ist.

"Kapitalisten, unentwegt auf der Jagd nach Profit, betrachten Offshore-Rechtsräume als ihr Niemandsland." Damit ist im wesentlichen umrissen, wovon dieses Werk handelt. An anderer Stelle formuliert die Autorin es so. "Wenn Regeln die Reichen begünstigen, brauchen die Reichen nicht gegen die Regeln zu verstossen."

Der Untertitel dieses Werkes, Wie globale Unternehmen und Superreiche unsere Regierungen austricksen, mag Verschwörungstheorien nahelegen, doch weit gefehlt. Wie kommt es eigentlich, dass es Zollfreigebiete gibt? Diese sind eine juristische Fiktion, denn Zollfreilager sind ausgedachte Orte mit ausgedachten Regeln. "Die juristische Person ist in den USA das am meisten verbreitete Beispiel einer Rechtsfiktion: Wir wissen, dass Unternehmen keine Personen sind, und doch geniessen sie im politischen Leben und vor Gerichte den Status einer 'Person'".

So recht eigentlich ist ganz vieles, was die globale Wirtschaft möglich macht, eine juristische Konstruktion, man könnte auch sagen, eine Anomalie. So unterstehen etwas Botschaften, Freihäfen, Steueroasen, Containerschiffe, arktische Archipele und tropische Stadtstaaten keiner nationalen Gerichtsbarkeit. "Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 193 aktive 'Freihandelszonen', die von den Zollvorschriften befreit sind." Da all dies legal ist, müsste so recht eigentlich der Begriff Rechtsstaat eine Korrektur erfahren.

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland ist eine detailreiche, gut geschriebene, mitunter etwas langfädige Aufklärung über ein eigentliches Paralleluniversum für Wohlhabende, eine juristische Fiktion sondergleichen, die auch deswegen möglich ist, weil sich selten jemand darüber Gedanken macht. Zum Aufschlussreichsten an diesem Werk gehören die Ausführungen zum Weltraumgesetz, das Atossa Araxia Abrahamian so kommentiert: "Das Ansinnen, die Gesetze der Menschen auf ein so weitläufiges, so unergründliches und so zeitloses Reich anzuwenden, ist so fruchtlos und egozentrisch, dass auch nur der Mensch darauf kommen konnte. Aber bei Gott, genau das haben wir getan."

Atossa Araxia Abrahamian
Schmutzige Geschäfte im Niemandsland
Wie globale Unternehmen und Superreiche
unsere Regierungen austricksen
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

Wednesday, 11 June 2025

"Macht ein Foto!"

Eine Brasilianerin, die angeblich nicht einmal von ihrer Schwangerschaft wusste, hat vor einigen Jahren auf einem Flug von Neuseeland nach Chile ein Mädchen zur Welt gebracht. Hier ein  Zeitungsbericht aus dem Jahre 2007.

Die 37-jährige australische Ärztin Jenny Cook, die mit an Bord war, leistete Hilfe bei der Geburt eines Babys auf einem Überseeflug. Die Geburt über dem Pazifik sei besonders bemerkenswert, weil das Baby in einer komplizierten Steißlage mit den Füßen voran auf die Welt kam, schreibt der Daily Telegraph in Sydney am Sonntag.

In solchen Fällen entscheiden sich Ärzte meist für einen Kaiserschnitt. ,,Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde'', sagte die Ärztin der Zeitung. ,,Falls ich irgendwelche Schnitte hätte vornehmen müssen, hätten sie mir dann ein Plastikmesser in die Hand gedrückt?'' Die Ärztin aus Adelaide sei von der Fluggesellschaft LAN Chile mit einem Wechsel in die erste Klasse des Flugzeuges und einer Flasche Champagner belohnt worden. Das Kind habe den Namen Barbara erhalten.

Die Ärztin berichtete, sie habe das Baby in der Nähe der Toiletten mit Unterstützung der Kabinencrew und einer Erste-Hilfe-Ausrüstung auf die Welt gebracht. Die 26 Jahre alte Mutter namens Aline habe zuvor über Rückenschmerzen geklagt. Sie habe darauf beharrt, nicht schwanger zu sein, auch noch, als die Fruchtblase bereits geplatzt sei.

Danach sei alles ganz schnell gegangen, berichtete die Geburtshelferin der Zeitung: ,,Ich hab das Baby hochgehoben und seiner Mutter auf den Bauch gelegt. Die Stewardessen sagten: ,,Was sollen wir nun machen?'' und ich sagte: 'Macht ein Foto.'''

Die Geburt liege schon drei Wochen zurück, sei aber erst nach Rückkehr der Ärztin nach Australien bekannt geworden, schreibt die Zeitung. Auf ihrem Rückflug nach Australien sei Cook vom Piloten mit einem Kuss und einer Flasche Parfüm begrüßt worden. Die Brasilianerin habe ihr inzwischen eine E-Mail geschickt und berichtet, dass es ihr und der kleinen Barbara gut gehe.

Sunday, 8 June 2025

Cultural Markers

 

Uruguiana, Brazil, 25 Februaray 2025

It goes without saying that literally anything can serve as a cultural marker. In Brazil, one such marker I consider the artistry with which electricty is handled as the two pictures here illustrate.

Another is the cleanliness and the absence of it of public toilettes at busstations. In Rio Grande do Sul: The one of Santo Angelo that I most recently visited was in such a state that I immediately decided to forget my need to use it; The one in Santa Maria however was a model of cleanliness.

On the inside of my hotelroom in Santa Maria a note said: Atenção: Não colocar roupas para secar nas janelas (Attention: Do not use the windows to hang clothes to dry.) I was reminded of a similar note that I once encountered in Tapes: Por favor, não utilize a toalha de rosto ou de banho para limpar os sapátos (Please, do not use the face towels or the bath towels to clean your shoes). My inquiry revealed that this seemed to be a local custom.

One of the most indicative cultural markers is of course traffic. In Brazil, a zebra crossing is rarely respected, neither are speed limits. A former student of mine once told me that when in Canada, he waited  at a zebra crossing when a car stopped. He didn´t trust what he saw and so he continued to wait until quite some cars were standing in line. So  he finally decided to give it a try and ran quickly to the other side of the street.

My favourite Brazilian cultural markes is language. In Portuguese, for instance, you learn with the experience and not from it. Also, the most used expression is very probably pode ser (can be, could be, may be). To me, that means that nobody is really in charge. I find this a very realistic view of the world

Santo Angelo, Brazil, 26 February 2025

Wednesday, 4 June 2025

Übung in Gehorsam

Eine junge Frau, die mit ihren Altersgenossinnen, die sich, "sei es durch Heimtücke oder überragendes Geschick, ihren Platz im Leben und in ihren Wunschberufen gesichert" haben, wenig gemein hat und als Hilfskraft in einer Anwaltskanzlei arbeitet, wird von ihrem Bruder, der, von seiner Familie verlassen, alleine in einem nördlichen Land lebt, gebeten, sich während seiner geschäftlich bedingten Abwesenheiten um seinen Haushalt zu kümmern.

Sie sagt zu, während der ersten Tage gehen ihr Kindheitserinnerungen und Gedanken an ihre Zeit in der Anwaltskanzlei durch den Kopf. "Man könnte sagen, dass mein mangelndes Interesse am Inhalt meiner Tätigkeit ein Versagen der Fantasie, wenn nicht gar einen Akt der Feigheit darstellte." Angesichts der Tatsache, dass die Kanzlei einen multinationalen Öl- und Gaskonzern vertrat, könnte man es allerdings auch als Selbstschutz sehen.

Der Bruder fährt weg, sie findet zur Ruhe. Ihre Sinne beginnen sich nach aussen zu richten, aufs Gras, die Äste. "Es war verwirrend, so regelmässig im Wald umherzuwandern, die verblüffenden und unmöglichen Veränderungen von einem auf den anderen Tag abzustecken. Mir wurde schwindlig von all dem. Ich hatte das Gefühl, mich an etwas Vergessenes zu erinnern. Zum einen war das der Wind. Zum anderen die Stille ...". Ganz wunderbar, diese Wahrnehmung, die auch deutlich macht, dass die Sinne vor allem hilfreich sind, wenn sie, wie es in  ihnen angelegt ist, nach aussen gerichtet werden.

Die junge Frau spricht die Sprache der Gegend nicht. Obwohl sie sich Mühe gibt, und sprachlich talentiert ist, bleibt nichts hängen. Einkaufen kann sie zwar auch ohne zu reden, doch wie sie ihren Aufenthalt im Laden schildert, hat etwas Gespenstisches.

Sie denkt über das Leben von Kohlköpfen nach. Und über Grünkohl, Senfblätter und Knoblauch. "Ich war bemüht zu lernen, indem ich blieb, wo ich war." Ein Satz, bei dem zu verweilen sich lohnt, auch weil wohl die meisten unbewusst davon ausgehen, wer etwas lernen wolle, müsse weggehen. Die junge Frau scheint ihrer Bestimmung zu folgen. "Es war, als wäre ich angetrieben von einer äusseren Kraft, die mein Tun lenkte ...".

Sie erkundet die Gegend, und erlebt den Argwohn, den man Neuankömmlingen generell entgegenbringt in ihrem eigenen Fall als besonders zielgerichtet. "Ich kehrte von diesen Ausflügen erschöpft zurück, als hätte mich das Land, dem meine Anwesenheit bis dahin in jeder Beziehung gleichgültig gewesen war, schliesslich voller Unwillen bemerkt und arbeitete nun an meiner Vertreibung."

Die junge Frau war ihr Leben lang eine Aussenseiterin gewesen, "irgendetwas in meinem Blut vermittelte mir dieses Gefühl, und irgendetwas darin vermittelte auch anderen dieses Gefühl, dass ich irgendwie merkwürdig war, fremd, nicht vertrauenswürdig." Es gelte, notiert sie einmal, ihre aussergewöhnliche Überheblichkeit und Selbstliebe zu beugen. Auf mich wirkt sie jedoch überhaupt nicht so, auf mich wirkt sie, als ob sie ganz einfach ihren vorgegeben Weg geht, zu dem auch gehört, dass sie sich nicht unterordnen kann/mag/will.

Übung in Gehorsam kreist um eine Grundsatzfrage, die Frage der Zugehörigkeit, und ob diese ein Ort sein kann. Haben wir unser Schicksal in der Hand oder ist alles eine Frage der Vererbung? Gute Fragen zeichnen sich dadurch aus, dass man sie schwer beantworten kann. Doch darum geht es nicht, es geht um die Auseinandersetzung, und die vorliegende ist so hoch differenziert, dass es eine wahre Freude ist.

 Was dieses Buch auszeichnet, ist das eigenständige Denken der Autorin, "Wie unausweichlich waren einmal beschrittene Wege! Aber wenn etwas geschehen konnte, und ja auch ständig geschah, folgte daraus nicht, dass genauso gut gar nichts geschehen konnte. Womöglich entwickelte man in späteren Jahren die Fähigkeit scharf zu bremsen, schliesslich stehenzubleiben und sich auf den Weg zu setzen, müde war man geworden, die Füsse waren wund, die Stiefel durchgescheuert." Soviel Hellsichtigkeit wünscht man auch anderen Romanen, denn obwohl ganz vieles vorgezeichnet scheint, die Möglichkeit, scharf zu bremsen gibt es ebenso, sofern man sie ins Bewusstsein lässt – und handelt.

Übung in Gehorsam ist ein sehr dichter, vielfältig anregender, philosophischer Roman, der unter anderem fragt, ob man weiterleben darf, weil man zufällig nicht umgebracht wurde und entkommen konnte. Um die Schlussfolgerung der jungen Frau wirklich schätzen zu können, sollte man sich mit diesem Buch auseinandersetzen.

Sarah Bernstein
Übung in Gehorsam
Roman
Wagenbach, Berlin 2025

Sunday, 1 June 2025

Kreuzberg die Welt

Als ich vor nunmehr 25 Jahren begann, mich ernsthaft mit Fotografie auseinanderzusetzen, galt mein Interesse der Presse- sowie der Dokumentarfotografie. Blättere ich jetzt durch Kreuzberg die Welt mache ich in zweifacher Hinsicht eine Zeitreise. In ein Kreuzberg, das es so nicht mehr gibt und in eine Zeit, in der Fotografien wie die von Wolfgang Krolow zu denen gehörten, die damals meine Welt waren.

Eingeleitet wird dieser Band durch ein informatives Porträt des Fotografen und Menschen Wolfgang Krolow durch Rainer Wendling, der dessen Momentaufnahmen überaus treffend als "gestaltete" Fotografie charakterisiert. Bedauerlicherweise hat er seinem Beitrag ein Zitat vorangestellt, in dem unter anderem behauptet wird: "Nichts ist, wie es scheint ...". Nun ja, das Wesen der Fotografie ist der Schein.

Die Fotografien von Wolfgang Krolow dokumentieren ein buntes Nebeneinander, das für diejenigen, die ein Auge und ein Herz dafür haben, immer schon faszinierend gewesen ist. Es sind Schwarz/Weiss-Aufnahmen, die mich ungemein ansprechen, was wesentlich damit zu tun hat, dass Wolfgang Krolow ein ziemlich einzigartiger Sinn für Komposition eignet.

In diesen Bildern manifestiert sich ganz vieles: Sozialkritik, die sich in der Sujet-Wahl zeigt (Häuserbesetzungen, Gedenkdemonstrationen ...), die Lebensfreude spielender Kinder, Punks, Strassenkünstler, Häuserfassaden, verlassene Plätze, alte Menschen, und und und. Allein die Anordnung der Bilder ist ein Meisterwerk. Da hat einer hingeschaut, ganz viel gesehen und festgehalten, was er teilen wollte. Wir sehen Kreuzberg mit den Augen (und durch die Linse) von Wolfgang Krolow. Das heisst nicht, dass wir sehen, was er gesehen hat, das heisst, dass wir vor Augen haben, was er uns zeigen wollte.

Was mir fehlt, sind Informationen zu den Bildern, ausführliche Informationen, nicht nur Stichworte wie Polizeiaufmarsch oder Demo gegen Nato, Aufrüstung und Raketenstationierung. Das ist zwar gängige Praxis bei Fotobüchern, aber eben gänzlich unbefriedigend. Mir einfach Bilder vor die Nase zu werfen und zu behaupten, diese sprächen für sich selber, finde ich etwas billig. Natürlich trifft dies nicht auf alle Bilder in diesem beeindruckenden Band zu, denn spielende Kinder oder Aufnahmen, die aus rein ästhetischen Gründen gemacht wurden, brauchen wirklich nicht erklärt zu werden. Die Aufnahmen von besetzten Häusern oder von Polizeieinsätzen gehören hingegen kontextualisiert, Bild für Bild braucht es erläuternden Text, der sich an den journalistischen Ws orientiert (Wer, Was, Wo, Wann, Wie).

Der mich am meisten ansprechende Text (es gibt insgesamt vier) stammt von Mustafa Akça, der Bezug auf einzelne Bilder nimmt und auch ausführt, was emotional mit ihm passiert, wenn er diese Aufnahmen anschaut. Dabei haben es ihm vor allem die Kinder angetan; mir selber ging es ebenso. Doch auch die Fotos einzelner alter Menschen, die ein Verloren-Sein in dieser Welt ausstrahlten, berührten mich sehr.

Im Beitrag von Sebastian Lux wird Wolfgang Krolow mit der Aussage zitiert, es sei sein "erklärtes Ziel" gewesen, mit seiner Fotografie "Widerstandskultur zu fördern"., was er so erläutert: "Für mich waren das einfach interessante Motive, die aber gleichzeitig auch etwas beitragen sollten zur Veränderung." Wir das konkret geschehen soll, erschliesst sich mir zwar nicht, denn Fotos tun nichts anderes (können nichts anderes tun) als Festhalten, was einmal gewesen ist. Dazu kommt, dass niemand wirklich weiss, was Fotos auslösen, auch deshalb haben die Militärs Angst vor Bildern toter Soldaten.

Es versteht sich: Wer mit Kreuzberg vertraut ist, wird diese Fotos anders sehen als ich, ein Schweizer, der schon viele Jahre nicht mehr dort war. Und wer mit Wolfgang Krolows Kreuzberg vertraut ist, wird diese Fotos gerade noch einmal anders sehen. Mich selber stimmten nicht wenige der Aufnahmen melancholisch (was ich als positiv empfinde), für mich sind sie (nein, nicht alle, natürlich nicht, die Mehrzahl sind eindeutig einem politisch aufklärerischen Drang geschuldet) die berührenden und überzeugenden Werke eines Romantikers (und auch das meine ich positiv), mit einem ganz wunderbaren Sinn für Situationskomik und Ästhetik.

Kreuzberg die Welt
Fotografien von Wolfgang Krolow
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2025