Den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki waren flächendeckende Brandbombenangriffe auf Tokio vorangegangen. "Bei den etwas mehr als fünf Monate dauernden Bombardements kamen nach offiziellen Statistiken insgesamt 269 187 Menschen ums Leben." Und dies obwohl die vorherrschende Meinung der amerikanischen Luftstreitkräfte in Sachen Flächenbombardement von Städten weder als moralisch vertretbar, noch als strategisch sinnvoll angesehen wurde. Wie kam es also 1945 zu einer solchen Radikalisierung der Kriegsstrategie? Und wie kam es zu den fragwürdigen moralischen Relativierungen, die darauf abzielten einen rücksichtslosen totalen Krieg zu rechtfertigen?
Natürlich kann man das letztlich nicht wissen, doch man kann wohlbegründete Vermutungen anstellen. Und genau dies tut Richard Overy, detailreich und differenziert. Einfache Erklärungen gibt es nicht, stellt er fest; die Kehrtwende, die sowohl zu den Flächenbombardements und zu den Abwürfen der Atombomben geführt haben, hat vielfältige Ursachen, nicht zuletzt der Druck, Resultate zu liefern, unter dem die Luftstreitkräfte standen.
"Der am häufigsten angeführte Grund für dieses Verhalten war der Ehrgeiz der Army Air Force, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Japan zu leisten, um mit den Anstrengungen der US Army in Südostasien und der US Navy im gesamten Pazifikraum mithalten zu können." Dazu kam die Rache an dem Feind.
Da Rache nicht zu den edlen Gefühlen gerechnet wird, musste ein anderer Grund her, einer, der die Japaner abwertete und entmenschlichte. Sie wurden kollektiv wie Tiere angesehen, als Affen, Ungeziefer oder Insekten. Der Autor zitiert amerikanische Generale mit Worten, die (wie immer) mehr über sie selber, als über ihre Feinde aussagen.
Die zweijährige Seeblockade der US Navy hatte Japan von den lebenswichtigen Rohstoff- und Öllieferungen abgeschnitten, die Zerstörungen und sozialen Umbrüche, die von den konventionellen Bombenangriffen verursacht wurden, führten jedoch nicht zur Kapitulation.
Niemals hätte man Tokio mit Bodentruppen angegriffen, das Risiko verwundet oder getötet zu werden, war viel zu gross. Geduld hatte man auch nicht. Und so entschied man sich, zu tun, was man heute noch tut: Grösstmöglichen Schaden anrichten, ohne dabei selber Schaden zu nehmen. Das funktioniert am ehesten, wenn man den Feind nicht mehr als Menschen wahrnimmt
Richard Overy schildert aufwühlend, was Bombenexplosion auf dem Boden anrichteten. Ein Feuersturm raffte alles hinweg, 92 Prozent der Gebäude der Stadt waren zerstört. "Die Verletzten und Toten konnten nicht fortgebracht werden, da es an Zügen und Fahrzeugen fehlte." Viele der Überlebenden machten nach Kriegsende die Erfahrung, dass sie ausgegrenzt wurden, denn die wenigsten wollten an den Krieg erinnert werden. Hiroshima zeigt auch eindrücklich, wie unterschiedlich in Japan und Amerika mit dem Abwurf der Atombombe umgegangen wurde.
"Die Entrüstung über den Überraschungsangriff auf Pearl Harbour beherrschte die Meinungen der Amerikaner über den japanischen Feind." Dass die Abwürfe der Atombomben eine Gräueltat war, wussten auch die Amerikaner, und so beeilte sich das amerikanische Militär, zu betonen, dass man Ziele angegriffen habe, die, in der Worten der Militärs, "ausreichend militärischer Natur waren, um nach den Regeln der zivilisierten Kriegsführung einen Angriff zu rechtfertigen." Unabhängige Berichterstattung wurde zensuriert, insbesondere über die Auswirkung der Strahlungen durfte nicht berichtet werden.
Hiroshima ist ein eindrückliches Werk, das uns vor allem vor Augen führt, dass der Mensch weder zivilisiert noch eine erfreuliche Spezies ist. Sein Talent zum Selbstbetrug ist sein grösstes. So behauptete Präsident Truman, der Abwurf der Atombombe über Hiroshima sei in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht erfolgt. Und: "Auf dem Stützpunkt segnete der Militärpfarrer die Crew vor dem Einsatz und bat Gott für sie um Kraft." !!! Man fasst es nicht, glaubte damals, so etwas sei nicht mehr möglich, doch der Mensch ist wie er ist, und solange er nicht ein anderer wird, wird sich niemals etwas ändern.
Überaus aufschlussreich (und desillusionierend) sind die juristischen Versuche, Bombenangriffe auf Zivilisten zu ächten. Definitionen, Interpretationen, Rechtfertigungen zuhauf. Die Haager Luftkriegsregeln, das Kriegsvölkerrecht, die Genfer Konventionen inklusive der Zusatzprotokolle – niemand hält sich dran. Die Hoffnung von Oppenheimer and anderen, "die Erfahrung einer einzigen Atombombenexplosion würde ausreichen, um eine Welt ohne Kriege zu schaffen", hat sich als Illusion erwiesen.
Richard Overy
Hiroshima
Wie die Atombombe möglich wurde
Rowohlt Berlin 2025
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