Monday, 12 July 2010

Philosophie-Atlas

"An sich interessiert sich die Philosophie nicht dafür, wer was wann und wo gesagt", beginnt Elmar Holenstein seinen wunderbar ansprechend gestalteten "Philosophie-Atlas" und fährt fort: "Worauf es ihr ankommt, ist vielmehr, ob das, was jemand, wann und wo auch immer, geäussert hat, als wahr oder falsch, gut oder schlecht, unsere Erkenntnis fördernd oder behindernd zu bewerten ist. Bevor wir jedoch eine Aussage beurteilen können, müssen wir sie verstehen."

Wer so einfach, verständlich, klar und elegant zu formulieren versteht, hat meine ganze Aufmerksamkeit, denn sich so ausdrücken zu können ist eine Kunst. Umso mehr, wenn dieser Mann (emeritierter) Hochschul-Professor für Philosophie ist, denn schliesslich sind Professoren eher dafür bekannt, sich in Fachjargons zu ergehen. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung dient Sprache nämlich vielen Berufsgruppen nicht in erster Linie zur Kommunikation, sondern zur Status- und Einkommenssicherung.

Elmar Holenstein hingegen schreibt so gut, argumentiert so differenziert und fasst seine Gedanken so überzeugend in Worte, dass man ihn, um dies zu illustrieren, am besten einfach zitiert. Hier zwei Beispiele:

"Die Überzeugung, dass die Menschen von Natur aus gut und moralisch veranlagt sind, findet sich in Zhongguo/China so unerschütterlich vertreten wie in Europa und die gegenteilige Ansicht ebenso, selbst innerhalb ein und derselben philosophischen Lehrrichtung (von den Konfuzianern Meng Zi und Xun Zi). Man entdeckt in verschiedenen Erdteilen nicht nur dieselben fundamentalen Wertvorstellungen, sondern auch dieselben nicht harmonisch auflösbaren Wertkonflikte. Die bevorzugte Position angesichts solcher Antinomien und Konflikte mag von Fall zu Fall eine andere sein, jedoch nicht nur in den verschiedenen Erdteilen, auch zu verschiedenen Zeiten innerhalb desselben Erdteils, ja im Laufe der verschiedenen Lebensphasen ein und derselben Person. Was wir von anderen Erdteilen erwarten können, sind feine Unterschiede und vor allem, dass die gleichen oder ähnliche Überlegungen in einem anderen kulturellen Ambiente gemacht wurden, oft früher und gelegentlich später als in Europa, mit anderen Motivationen und mit anderen Auswirkungen."

"Zukunftsprognosen erschöpfen sich mit ermüdender Regelmässigkeit in der Voraussage einer linearen Fortsetzung von Entwicklungen der gerade verflossenen Jahre. Über kurz oder lang führt dann Unvorhergesehenes zu Weichenstellungen in ganz andere, ungeahnte Richtungen. An Vorstellungskraft scheint es auch jenen zu fehlen, die seit mittlerweile 200 Jahren Hegel folgend, ernsthaft ein Ende der Kunst, der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft, der Geschichte und des Menschen (alles im Singular) wahrzunehmen glauben."

"Der Atlas der Philosophie" wäre schon allein des luziden Textes wegen ein empfehlenswertes Buch, doch es ist mehr, nämlich ein veritabler Atlas und das meint: auf 41 Karten und Schaubildern veranschaulicht der Autor "Orte und Wege des Denkens" (so der Untertitel). So zeigt eine Karte etwa die Einzugs- und Ausbreitungsgebiete der 'Europäischen' Philosophie, eine andere das Ausbreitungsgebiet südasiatischer Schriftkultur, Wissenschaft und Philosophie vom -4ten bis zum 18ten Jahrhundert und eine weitere die Philosophie in Zhongguo/China.

"Denkweise und Denkinhalte gewinnen an Tiefenschärfe und werden leichter begreiflich, wenn wir den Herkunftsort und die Lebensstationen eines Philosophen kennen, wenn wir beispielsweise wissen, dass Vico aus dem süditalienischen Napoli, Montesquieu aus dem französisch-aquitanischen Bordeaux, Rousseau aus dem französisch-schweizerischen Genève und Hume aus dem schottischen Edinburgh stammt", notiert Holenstein und in der Tat tun sich einem bislang ganz unerschlossene Dimensionen auf, wenn man jetzt etwa die Karte A 6 aufschlägt und staunend betrachtet, wo überall sich die Schrift- und Wissenschaftskulturen der 'Alten Welt' ausgebreitet haben.

"Allgemein gilt, dass in diesem Atlas die wichtigsten Lebensstationen von transkulturell und interkontinental bedeutenden Philosophen eingetragen sind. Orte und in den Registern auch Personen, denen eine überrragende Bedeutung zugeschrieben wird, sind fett hervorgehoben." Kaum hatte ich dies gelesen, wandte ich mich den Registern zu und was ich da fand, beeindruckte mich ausserordentlich, denn in diesen hat eine eigentliche Herkulesarbeit ihren Niederschlag gefunden. Was Holenstein da zusammengetragen und geordnet hat, ist ein veritables Nachschlagewerk der Weltphilosophie.

Wer so eurozentrisch geprägt ist wie ich und kaum je von chinesischen, japanischen oder indischen Philosophen gehört hat, für den sind allein die Register eine wahre Fundgrube. Und wenn man anschliessend mit dem Finger die Karten erkundet, tun sich einem ganz neue Welten auf, denn sich visuell führen zu lassen ist etwas ganz anderes als sich einfach seinen Wort-Assoziationen hinzugeben. Ich jedenfalls fühlte mich an die Entdeckungsreisen erinnert, die ich vor vielen Jahren mit dem Schüleratlas gemacht hatte - und fühlte mich bereichert. Sehr schön, dass es diesen Philosophie-Atlas gibt, meine Sicht der Welt ist durch ihn umfassender geworden.

Da die deutsche Ausgabe des Atlasses (Ammann Verlag, 2004) nur noch in Restexemplaren erhältlich ist, sei hier auch auf die italienische Ausgabe bei Einaudi "Atlante di Filosofia" (2009) verwiesen.

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