Saturday 12 June 2010

Ausradiert

Es gilt eine Entdeckung anzukündigen: "Ausradiert" von Percival Everett, ein facettenreicher Lesegenuss erster Güte.

Die Rahmenhandlung geht so: dem Schriftsteller und Afroamerikaner Thelonius "Monk" Ellison wird vorgeworfen, dass seine Bücher nicht nur schwer verständlich, sondern vor allem nicht schwarz genug seien, zu wenig Ghettoliteratur eben. Ihm selber ist genau diese (von Kritik und Publikum begeistert aufgenommene) total widerlich. Da er jedoch mit seinen eigenen, reichlich abgehobenen Texten kein Publikum findet, setzt er sich eines Tages hin und schreibt, unter einem Gangsta-Pseudonym, selber einen äusserst erfolgreichen Ghettoroman (den man übrigens unter dem Titel "Mein Ding" auch in diesem Buch findet), den er als Parodie versteht.

Eine originelle Idee, sicher, und auch gut umgesetzt, und schon deshalb lohnt die Lektüre, doch was das Buch für mich so aussergewöhnlich und empfehlenswert macht, ist was anderes: dass da nämlich eine Vielzahl ganz verschiedener Geschichten erzählt und trotzdem die Spannung bis zum Schluss durchgehalten wird (nein, es ist kein Thriller, es ist einfach gut erzählt). Hier ein paar Stichworte zu dem, was auch in diesem Buch vorkommt: Gedanken über Holzarbeit und über's Schreiben, Kurz-Dialoge zwischen Rothko und Resnais, Rauschenberg und de Kooning, Wilde und Joyce, Betrachtungen zum Literaturbetrieb und und und ... Und das alles soll zusammengehen? Ja, das tut es. Weil der Percivel Everett nicht nur wunderbar schreiben kann, sondern auch was zu erzählen hat. Dazu kommt, dass das Buch auch noch witzig ist.

So beschreibt sich der Protagonist selber (aus Anlass seiner Aufnahme in die Jury einer Literaturpreises):
Autor von fünf Büchern. Weitgehend ungelesene, experimentelle Erzählungen und Romane. Als anspruchsvoll und oft unzugänglich betrachtet. Bekannt für seinen Roman Das zweite Scheitern. Ein einsamer Mann, der offenbar alle Freunde verloren hat. Besucht täglich seine Mutter, auch wenn sie vergessen hat, wer er ist. Kann nicht mit seinem Bruder reden, weil der ein Idiot ist. Kann nicht mit seiner Schwester reden, weil sie tot ist. Zu verwirrt, um tatsächlich depressiv zu sein. Mag Angeln und Holzarbeit. Sucht nach einer allein stehenden Frau mit ähnlichen Interessen. Lebt in der Hauptstadt.

Und so charakterisiert er den Jury-Vorsitzenden: Autor von sechs Romanen. sein letztes Buch war ein erzählendes Sachbuch mit dem Titel Die Zeit verrinnt, über seine Frau, bei der Krebs diagnostiziert wurde. Am Ende ist sie nicht gestorben und ihre Geheimnisse, die er offenbart hat, haben dazu geführt, dass sie sich scheiden liess, sodass die Literaturwelt mit Spannung sein kommendes Buch, Mein Fehler, erwartet. Er ist Professor an der Universität von Alabama.

Hier noch ein paar weitere Kostproben:
Früher suchte ich in allem eine tiefere Bedeutung, dachte, ich würde mich wie ein hermeneutischer Detektiv durch die Welt bewegen, doch als ich zwölf war, habe ich damit aufgehört. Auch wenn ich es damals nicht ausdrücken konnte, ich habe seither erkannt, dass ich jede Suche nach einer Erklärung dessen aufgegeben habe, was man subjektive oder thematische Bedeutungsschemata nennen könnte. Stattdessen habe ich sie durch die reine Schilderung von spezifischen Fallbeschreibungen ersetzt, aus denen ich zumindest Schlüsse ziehen konnte, wie vage diese auch immer waren, die mir erlaubten, die Welt, so wie sie auf mich einwirkte, zu verstehen. Mit anderen Worten, ich habe gelernt, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Mit noch anderen Worten, mir war alles egal.

Eine Männerstimme sprach zu Bill (des Autors Bruder) und er antwortete, nannte den Mann 'Liebling'. Ich konnte nicht verleugnen, dass es mich schaudern liess, dies zu hören, und ich fühlte mich schlecht wegen meiner Reaktion.

Marilyn goss Kaffee ein ...
"Es tut mir leid, dass ich gestern nicht angerufen habe."
"Ich nahm an, du seist beschäftigt", sagte ich.
"Clevon und ich haben uns jetzt offiziell getrennt."
Diese Neuigkeiten gefielen mir, aber ich war unsicher, wie ich reagieren sollte.
Nach einer kurzen Pause sagte Marylin: "Ich muss dir trotzdem sagen, dass wir in jener Nacht miteinander geschlafen haben."
Warum musste sie mir das sagen? Ich musste es nicht wissen und konnte auch ohne diese Information ganz gut auskommen. Hätte ich es nicht gewusst, es hättte mich auch nicht gekümmert, doch nun musste es mich kümmern. Es kümmerte mich, was er für sie bedeutete, was ich ihr bedeutete, ob sie oben gelegen hatte oder er, ob sie einen Orgasmus gehabt hatte oder mehr als einen, wie gross sein Schwanz war, warum sie es mir gesagt hatte. Ich betrachtete den abgenutzten Holztisch, verzogene Kiefernlatten mit einem auf Gehrung gesägten Rand aus Ahorn. Eine merkwürdige Zusammenstellung. Ich liess meine Finger über die abgerundete Kante vor mir gleiten. "Ich nehme an, solche Dinge passieren einfach", sagte ich.
"Ich habe erkannt, dass er mir nichts bedeutet."
Ich nickte. "Eine gute Erkenntnis." Wenn auch spät.

Percival Everett
Ausradiert
Jens Seelig Verlag, Frankfurt am Main
http://www.verlag-seeling.de/

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