Mit der Bürokratie habe ich noch nie etwas Positives verbunden, ich halte sie, wie das der britische Anthropologe Nigel Barley einmal treffend auf den Punkt gebracht hat, für an end in itself. Allerdings merke ich bereits auf den ersten Seiten von Bürokratopia, dass ich mir dazu recht wenig Gedanken gemacht und offenbar Wesentliches nicht beachtet habe.
Da die Autorin Julia Borggräfe Juristin ist, muss ich gleich noch einmal über meinen Schatten springen, denn mit Juristen (ich habe selber ein Jurastudium absolviert), assoziiere ich so ziemlich gar nichts, das ich hilfreich finde. Im vorliegenden Fall habe ich mich jedoch insofern getäuscht, als mir dieses Buch bewusst macht, wie notwendig eine funktionierende Verwaltung für das Gelingen der Demokratie ist.
Dass die Verwaltung unser Leben weit mehr bestimmt als die Politik, ist mir schon lange klar. Jedenfalls theoretisch. Umso verblüffter bin ich jetzt, dass ich mir über die Funktionsweise der Verwaltung bislang noch nie wirklich nachgedacht habe. "Der Zusammenhang zwischen einem funktionierenden Staat und einer starken Demokratie hat sich bei den politischen Verantwortungsträger:innen noch nicht durchgesetzt – obwohl dieser mehr als offensichtlich ist." Man sieht gerade in den USA, was passiert, wenn die politisch Verantwortlichen keinen Schimmer davon haben, was Verantwortung bedeutet.
Die Verwaltung hat sich am Gemeinwohl zu orientieren. "Verwaltungsakte mögen für Einzelpersonen mitunter belastend sein, aber sie dienen der Aufrechterhaltung von Ordnung und Gerechtigkeit. Daraus, dass Verwaltungsentscheidungen auf Gesetzen basieren, die durch demokratische Prozesse legitimiert und durch das Rechtssystem überprüfbar sind, ergibt sich ihre Verbindlichkeit für alle Bürger:innen." Auch wenn ich das mit der Gerechtigkeit entschieden weniger idealistisch sehe, so bringt dies auf den Punkt, weshalb die Verwaltung so wesentlich ist: Sie vermittelt Stabilität. Und nichts ist den Menschen wichtiger.
Julia Borggräfe diagnostiziert einen Vertrauensverlust in den Staat und plädiert für Bildung, den "Rohstoff, aus dem individuelle und gesellschaftliche Zukunft gemacht wird." So nachvollziehbar ihre Forderung auch ist, besonders innovativ scheint mir dieser Ansatz nicht, auch deswegen nicht, weil die Charakterbildung in der Schule keinen Platz hat und das vermittelte Fachwissen nach Abschluss der Ausbildung oft obsolet geworden ist.
Studien werden angeführt, Beispiele aus anderen Ländern herangezogen. So funktioniert der Schulunterricht etwa in Finnland (kooperativ, von unten nach oben) ganz anders als in Deutschland (Top-down-Prinzip). Auch für die Digitalisierung macht sich Julia Borggräfe stark. Nun ja, wer sich einmal längere Zeit in Ländern, wo regelmässig der Strom ausfällt, aufgehalten hat, wird das womöglich etwas weniger positiv sehen.
Aufgestossen ist mir das Vokabular. Ein Titel wie "Modernes Personalmanagement als Treiber von Verwaltungsinnovation" lässt mich automatisch aufstöhnen. "Employer Branding", "Work-Life-Balance", "Strategische Personalplanung und -entwicklung" etc. ist der übliche Beraterjargon. Ein Satz wie "In der heutigen dynamischen und komplexen Welt spielt Führung eine entscheidende Rolle für den Erfolg von Innovations- und Transformationsprozessen, gerade auch in der öffentlichen Verwaltung", finde ich schlicht unerträglich. Nichtssagender geht kaum.
Je mehr meine Lektüre voranschritt, desto öfter ging mir dieses Zitat von Robertson Davies (aus A Mixture of Frailties) durch den Kopf: His reply had that clarity, objectivity and reasonableness which is possible only to advisors who have completely missed the point. Der Punkt hier ist der Faktor Mensch, an dem dieses Werk völlig vorbeigeht. So wird zum Beispiel differenziert und einleuchtend ausgeführt, weshalb der Klimawandel zu den "wicked problems" und mittels strategischer Vorausschau angegangen gehört. Dabei wird jedoch vollkommen ausser Acht gelassen, dass für unser Hirn nur die nähere Zukunft, nicht aber die entferntere emotional (Verstehen ist ein Gefühl) begreifbar ist.
Bürokratopia ist detailliert, informativ, verständlich geschrieben; vor allem die Analyse lohnt.
Julia Borggräfe
Bürokratopia
Wie Verwaltung die Demokratie retten kann
Wagenbach, Berlin 2025
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