Zuallererst: Die Bibel, das sogenannte Buch der Bücher, ist so recht eigentlich gar kein Buch, "sondern eine Schriftensammlung, von der unterschiedliche Teile in unterschiedlichen Jahrhunderten und sehr unterschiedlichen sozialen Milieus überliefert sind." Um 100 nach Christus enthielt der christliche Kanon vier verschiedene Versionen der Jesusgeschichte: die Evangelien des Matthäus, des Markus, des Lukas und des Johannes. Es gab zwar noch mehr Evangelien, darunter das Thomasevangelium, doch die wurden redaktionell aussortiert. Obwohl der Plot in allen vier Evangelien derselbe ist (Geburt, Leben, Reden, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth), differierten die Sichtweisen beträchtlich. "Man wollte die Vielfalt der Zeugnisse erhalten und damit jeglichem Fundamentalismus Einhalt gebieten", so Johanna Haberer. Vielleicht wusste man aber schlicht nicht, wer der Wahrheit am nächsten kam.
Die Kulturen des Abendlandes gründen auf dem Christentum, also der Bibel. "Wir können wesentliche Züge der westlichen Kultur nur verstehen und entschlüsseln, wenn wir die Schriften der Bibel kennen", behauptet die Autorin. Dass eine Theologieprofessorin so argumentiert, verwundert nicht, doch die westliche Kultur versteht man meines Erachtens dann am besten, wenn man sich ganz einfach ansieht, was sie vorlebt – und das scheint mir wenig christlich, man denke etwa an: Du sollst nicht lügen. So wählten etwa in Amerika viele sich christlich Wähnende einen notorischen Lügner zu ihrem Präsidenten.
Nichtsdestotrotz: Die Bibel hat unser Menschenbild geprägt. Das biblische Menschenbild begreift den Menschen als mit der Gabe ausgestattet, sich frei entscheiden zu können, sowie Entscheidungen zu bereuen, zu revidieren, und sich neu ausrichten zu können. Ob wir wirklich so frei in unseren Entscheiden sind, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Gut gelungen ist die Auseinandersetzung mit der Frage "Wer oder was ist Gott'", wobei, neben der Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch in der Wüste, auch Gedanken von Ludwig Wittgenstein und Max Frisch beigezogen werden. Hier nur soviel: Es ist eindeutig einfacher, zu sagen, wer oder was Gott nicht ist.
Es spricht sehr für dieses Buch, dass es durchgehend auf die verschiedenen Lesarten der Bibel aufmerksam macht, Dass etwa der Turmbau zu Babel dergestalt interpretiert wird, "als fürchte Gott sich vor seinem eigenen Geschöpf und dessen technischem Fortschritt", charakterisiert Johanna Haberer als speziell christliche Wahrnehmung. "In der jüdischen Auslegung fehlt dieses Motiv, hier wird die Schuld der Babylonier vielmehr in der Unterdrückung der Individualität gesehen."
Obwohl katholisch aufgewachsen (Messdiener, Klosterschule), die Dreifaltigkeit bzw. den "Heiligen Geist" habe ich nie begriffen. Laut Frau Professor Haberer handelt es sich dabei "um eine Kraft, die lebendig macht, als eine unerklärliche Magie des Lebens." Eine sehr eigenwillige Auslegung, wie ich finde, auch wenn sie mir gefällt. Wir alle kennen solche magischen Momente, in denen etwa ein Funke überspringt, etwas geschieht das stimmig und doch nicht wirklich fassbar ist. Irritierend fand ich jedoch, dass die Autorin Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau als einen solchen Moment begreift. Für mich war das nichts anderes als eine Inszenierung für die Kameras.
Die jüdisch-christliche Kultur stellt sich auf die Seite der Armen, der Entrechteten, ohne allerdings den Reichtum a priori zu verurteilen. Das ist ein ziemlicher Spagat, bei dem die Benachteiligten meist das Nachsehen haben. Ja, so recht eigentlich ist vieles Christliche in der modernen Welt kaum mehr präsent. "Soziale Beziehungen werden ausschliesslich in den Kategorien des Handels bewertet, und nur wer gibt, hat das Recht, auch etwas zu erhalten." Unchristlicher geht es eigentlich nicht. Doch genau diese Galtung prägt ganz speziell das heutige, von Christen geprägte, Amerika
Bibel. 100 Seiten ist ein überaus lehrreiches Werk, das allerdings nicht einlöst, was ich mir versprochen bzw. erhofft hatte: Klarheit über die Entstehung, die Gliederung, die wesentlichsten Aussagen der Bibel. Stattdessen macht es unter vielem Anderen (die Propheten. die Gottesknechte, Adam und Eva etc.) auf den Verlust der religiösen Sprache aufmerksam. Wörter wie Trost sind heutzutage kaum mehr in Gebrauch. "Mitleid, Barmherzigkeit oder Vergebung zu erfahren gilt als demütigend, und ein 'barmherziger Mensch' kommt in unserer Alltagssprache praktisch nicht mehr vor." Oder man nehme das Wort "Gnade". Die Weisheit "Gnade vor Recht ergehen" ist dem sogenannten Rechtsstaat, in dem das Recht des Stärkeren dem Recht des Schlaueren weichen musste, nachgerade wesensfremd. Ob Barmherzigkeit als ausschliesslich herablassend aufgefasst werden muss, wie das die Autorin tut, bezweifle ich allerdings. Für mich ist es schlicht ein anderes Wort für Empathie.
Johanna Haberer begreift Christsein als "stets den eigenen Standpunkt reflektieren, beweglich, informiert und (selbst)kritisch zu bleiben." Auf-dem-Weg-Sein. Die jüdisch-christliche Religion und Kultur ist nomadisch geprägt. "Bis heute leben die Beduinen, Nachfahren jener nomadischen Völker des alten Israel, in Wellblechhütten an den Grenzen der Städte und Dörfer und weigern sich, feste Siedlungen zu bauen. Der Aufbruch als Lebensaufgabe ...". Es sind solche Erkenntnisse, die mich sowohl die Bibel als auch das Christentum anders und neu sehen lässt.
Johanna Haberer
Bibel. 100 Seiten
Reclam, Ditzingen 2025
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