Sunday, 11 May 2025

Russland gegen die Moderne

Es sei gleich voran geschickt: Dieses Buch wurde im Jahre 2022 verfasst, die englische Originalausgabe erschien 2023. Zudem: Dies ist ein akademisches Werk, operiert also mit Thesen und beschäftigt sich ausgiebig mit Definitionen. Für mich wurde die Lektüre immer dann spannend, wenn die Ausführungen konkret wurden. "Noch im Januar 2022 erachteten sowohl meine russischen als auch ukrainischen Freund:innen und Kolleg:innen die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches als verschwindend gering und allein den Gedanken als lachhaft," Auf die Idee, dass es daran liegend könnte, dass man Irrationale nicht rational erklären kann, kamen die Rationalen allerdings nicht. Nach wie vor huldigen sie der Vorstellung, was zur Zeit auf der Welt geschieht, sei rational erklär- und begreifbar. Das ist die Definition von irrational.

Zu den Begriffen, denen sich der Autor annimmt, gehört auch "die neue Moderne", die "zwischen dem Planeten und seinen Menschen ausgehandelt wurde". Ich kann mir viel vorstellen, doch ein solches Aushandeln dann eben doch nicht. Genauso wenig wie was eine Gaiamoderne sein könnte. Zu Gaia siehe  die Ausführungen von James Lovelock.

Akademiker zeichnet aus, Banales in Hochtrabendes zu verwandeln. "Moderne Nationen entwickeln sich in einem Balanceakt zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat." Und dass der Mensch ohne Vertrauen so ziemlich am Arsch wäre, weiss man auch ohne gescheite Leute wie Niklas Luhmann. Wie funktioniert aber ein Staat, dem die Bürger der Obrigkeit nicht trauen, da sie wissen, dass sie ständig angelogen werden, wie in Russland während Covid-19? "In einer ungleichen und anti-intellektuellen Gesellschaft jedoch glaubte niemand den Fachleuten, weder die Bevölkerung noch die Elite. In der Bevölkerung sah man sie als Teil der Elite und entzog ihnen das Vertrauen, und die tatsächliche Elite aus Managern und Staatsbeamten zählte sich nicht zu ihresgleichen und traute ihnen ebenfalls nicht."

Dass Russland, abhängig von Petrodollars und Gas-Euros, den Klimawandel leugnet, ist wenig überraschend. Wer sich die amerikanische "Who profits?"-Frage zu eigen macht, gelangt meist schnell zum Kern vieler politischer Probleme. Alexander Etkinds überaus detaillierte Ausführungen bringen  jedoch Verblüffendes ans Licht, das diesen Kern ganz neu beleuchtet. "Nur ein Prozent der russischen Bevölkerung war in der Ölindustrie tätig, und ein erheblich geringerer Anteil an Menschen profitierte davon. Dennoch erwirtschaftete die Branche weit mehr als die Hälfte des Staatshaushalts."

Höchst differenziert zeigt Alexander Etkind auf wie Russland an ganz unterschiedlichen Fronten (von der Homophobie zur Unterstützung rechtextremer Bewegungen, von systematischen Lügen zur Verbreitung von Korruption) gegen den Westen schiesst, mit dem Ziel das Vertrauen in den Staat zu unterminieren. Dabei macht er einem auch bewusst, dass die moralfreien Polit-Amateure im Weissen Haus gegen die moralfreien Polit-Profis im Kreml keine Chance haben.

Ob das russische Gebaren wirklich von strategischen Überlegungen geleitet wird, wie das Alexander Etkind und andere Akademiker insinuieren, da bin ich mir nicht so sicher, da ich davon ausgehe, dass der Mensch nicht wirklich weiss, was er tut. Andererseits versteigt sich der Autor nicht einfach in Theorien, sondern orientiert sich am Verhalten der Russen. Und dieses lässt seine Rückschlüsse in der Tat sehr plausibel erscheinen. Nur eben: Was uns einleuchtet, muss deswegen noch lange nicht so sein.

Was dieses Werk für mich lohnenswert macht, ist die ungeheurere Dichte an Informationen, die der Autor vorlegt. Ganz besonders aufschlussreich sind so Sätze wie: "Und die bei der Elite beliebten Banken – unter anderem Credit Suisse und Deutsche Bank – waren ebenfalls im Bilde.", machen sie doch deutlich, dass wenn es wirklich eine einheitliche Front gegen Russland gäbe, das Regime kaum überlebensfähig wäre.

Mir fehlt zwar der Wissenshintergrund, um dieses Werk angemessen würdigen zu können, doch die Vielzahl der Erkenntnisse, die mir dieses Werk vermittelt, sind echte Augenöffner. Einige will ich hier teilen: "Sämtliche Petrostaaten waren zutiefst ungleich." Putins Vorgesetzte beim KGB sahen als seine einzige Schwäche sein "vermindertes Gefahrempfinden". "Der Unterdrücker verübt seine Gräueltaten zwar frei von jeder Vernunft, erklärt sich aber eifrig. Nicht seinem Opfer gegenüber, aber für das Publikum zu Hause und im Ausland hält er Begründungen bereit."

Nun gut, einen Russland-Ignoranten wie mich zu beeindrucken, ist nicht allzu schwierig. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass ich alle offiziellen russischen Verlautbarungen für Lügen halte, und allem, was man inoffiziell zu wissen glaubt, mit Skepsis begegnen. "Vor 2022 gab es in Russland 83 Milliardäre ("Forbes") und 269.000 Millionäre (Credit Suisse). Die tatsächliche Zahl der Reichen und Mächtigen im Land lag irgendwo dazwischen – wenige zehntausend. Über sie wissen wir nur sehr wenig." Wie Alexander Etkind auf diese wenigen zehntausend kommt, erläutert er nicht.

Mein Lieblingskapitel ist "Die unerträgliche Leichtigkeit westlicher Expert*innen". Was seit 2014 in der Ukraine geschieht, bezeichnet der Autor zutreffend mit Russisch-Ukrainischer Krieg. Die westlichen Einschätzungen sogenannt anerkannter Grössen sind aus heutiger Sicht überaus peinlich. Man sollte sich die einschlägigen Namen merken (unter ihnen Adam Tooze, Niall Ferguson, John Mearsheimer), auf dass man sich künftig an ihre Inkompetenz erinnere.

Russland gegen die Moderne ist ein beeindruckend informatives Werk. Alexander Etkind plädiert nicht nur für die Idee eines deföderierten Russlands, er sagt den Zerfall der Russischen Föderation voraus. 

Alexander Etkind
Russland gegen die Moderne
Eine "Spezialoperation" zur Unterdrückung der gesellschaftlichen Transformation
transcript Verlag, Bielefeld 2025

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