Wer selber viel Zeit in Bangkok zugebracht hat, wird sich dieses Buch wohl mit besonderer Neugierde vornehmen. Als "literarisches Nachtbild mit mehr als 250 Fotos von suggestiver, intimer Kraft" wird es vom Verlag angepriesen. Ein literarisches Nachtbild? Damit müssen Roger Willemsens Sprachbilder gemeint sein:
"... die Polyphonie der Grossstadt Bangkok, die lebt, als hätte der grosse Auslagen-Arrangeur gerade erst seine Hand aus der Dekoration gezogen ... Die Ströme von Wasser, Licht, Verkehr, Kraft, Elektrizität müssen gebündelt, die Schneisen für Essen, Waren, Arbeitskraft müssen geschlagen und in jeden Winkel geführt werden. Selbst die Sentimentalität derer, die hier leben oder hierher zu Besuch kommen, will beantwortet werden. Die Stadt muss dem Glauben Lichtinseln, dem Schönen Raum geben, die Unterhaltung der niederen und der verfeinerten Art kultivieren, sie muss selbst alle Leibesfunktionen erfüllen, sie muss leben, und wo sie stirbt, muss sie nachwachsen und sich erneuern. Überall, bei Tag und Nacht, ist sie zugleich Stadt und Märchenwald."
Es ist anzunehmen, dass der eine oder die andere diesen Stil und diese Einsichten etwas gewöhnungsbedürftig finden wird. Ich jedenfalls wäre nie und nimmer darauf gekommen, dass jemand Bangkok zugleich als Stadt und als Märchenwald bezeichnen könnte. Und dann noch "Überall, bei Tag und Nacht".
Glücklicherweise geht es nicht so weiter und ganz wunderbar gelungen sind die Passagen, in denen Willemsen ganz einfach schildert, was ihm so zustösst. Weniger überzeugend - doch, zugegeben, de gustibus non est disputandum - ist, wenn er seiner Sprachfantasie freien Lauf lässt: "Es brennt. Der Himmel kommt herunter. Seine Tiefe ist jetzt schwärzer. Seine Höhe nicht mehr hoch. Er lastet als ein wolkiges Massiv, nicht transparent, sondern dick und undurchdringlich ..." Na ja, ich weiss nicht so recht. Andrerseits, starke Bilder produziert diese Sprache schon.
Doch jetzt zum für mich Überzeugendsten.
Die Schilderung der Wanderarbeiter etwa, die so beginnt: "Zu Hunderten zwängen sie sich abends aus einem Spalt im Bretterzaun, besteigen die Ladeflächen kleiner Trucks und werden in ihre Sammelunterkünfte verbracht, mit den leeren Lunchboxen, den Gummistiefeln unter dem Arm. Offiziell zählt man hier fast drei Millionen Arbeiter, eigentlich aber sind ihrer viel mehr, zählt man die Illegalen, die ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung dazu, die meisten Burmesen oder Laoten ...". Oder die geradezu hinreissende Schilderung übers Essen, worum sich in Thailand ja so recht eigentlich alles dreht - entweder man kommt in diesem Land vom Essen oder man geht zum Essen (ein gängiger Thai Gruss lautet denn auch: Schon gegessen?): "Tatsächlich scheint in Bangkok kein Lebensraum resistent gegen die Brandung der Nahrungsmittel. Das meiste davon lässt sich auf Spiesse ziehen, Leber, Hoden, Geflügelfleisch, Fischbällchen, Früchte - überall türmen sich die Sticks, bunt wie Zuckerstangen, glasiert, knusprig, fett, fahl wie Raufasertapete, knallig wie Pop-Art. Handlich soll dies Essen sein, gut zu bedienen, keine echte und schon gar keine schwere Mahlzeit - 'Spielzeugessen' wird es auch genannt, damit man es bloss nicht ernst nehme, und omnipräsent ist es schon, weil Thais die Freude, die damit verbunden ist, das Spielerische, Bunte und Vergnügliche so lieben, dass sie es nirgends missen möchten."
Sehr schön auch diese Stelle, eine treffende Illustration der interkulturellen Maxime, dass "humor doesn't travel well" (und das gilt ganz besonders für die Ironie):
"Ein Mann hält mich am Arm fest. In Deutschland hätte er ein Kunstlederhütchen auf. Hier trägt er ein Kunstfaserhemd, in das er hinein schwitzt, in seiner Hand ein Leporello mit briefmarkengrossen Abbildungen von Mädchen, die aus Schaumkronen tauchen und lachen.
'You want, Sir?'
Beim ersten Vorbeigehen habe ich ihn gegrüsst, den Kopf geschüttelt, am zweiten Tag nur noch gegrüsst, ihn dann ignoriert. Nichts hat sich in seinem Auftreten verändert. Ich bin der Mann, der ohne weiteres ein Taxi, einen Koffer, eine Mango oder siebzehn Mädchen im Schaumbad ordern könnte. Heute bleibe ich stehen, nehme das Faltblatt aus seiner Hand. Der Schaum des Fotos trägt den grauen Film seines Handschweisses.
'Beautiful", sage ich.
Er nickt enthusiastisch, legt mir die Hand auf den Unterarm.
'Too beautiful', sage ich.
Er sieht mich fragend an.
'Too beautiful for me.'
Er hakt mich unter:
'I have ugly, too.'"
Das Buch ist ja gleichzeitig ein Fotobuch und als solches hat es mich einigermassen ratlos gelassen, denn Text und Fotos (meine Lieblingsaufnahmen finden sich auf den Seiten 119 und 218/19, es gibt jedoch noch etliche mehr, die mich angesprochen haben) beziehen sich im besten Fall indirekt aufeinander. Anders gesagt: Der Text braucht die Bilder nicht, und umgekehrt. Doch es gilt eben auch: man liest relaxter, wenn man ab und zu seine Augen wandern lassen kann. Übrigens: dass die Fotos "von suggestiver, intimer Kraft" seien, konnte ich nicht finden, doch das liegt möglichweise auch daran, dass ich mir darunter nichts vorstellen kann.
Wie leider bei Bildbänden allgemein üblich, sind den Fotos von Ralf Tooten keine Legenden beigegeben. Man muss zum Buchende blättern, um rauszufinden, was einem seine Augen zeigen. Und da erfährt man dann, dass die Aufnahme auf Seite 6 den "Blick auf die Thanon-Sathorn-Strasse" und diejenige auf Seite 9 den "Pier am Mae-Nam-Chao-Phraya-Fluss" zeigt. Da, wie der Klappentext uns sagt, der Fotograf Ralf Tooten in Bangkok lebt und arbeitet, hätte man eigentlich erwarten dürfen (er war laut Verlagsangaben zusammen mit Roger Willemsen auch für das Layout verantwortlich), dass ihm solche Fehler nicht passieren sollten: Thanon heisst nämlich im Thailändischen Strasse und somit ist eine Thanon-Sathorn-Strasse ein ziemliches Unding; und Mae Nam heisst auf Thailändisch Fluss, so dass ein Mae-Nam-Chao-Praya-Fluss auch nicht gerade viel Sinn macht.
Doch das ist ein Detail. Mein Gesamteindruck: vielfältig anregende Ein- und Ansichten in und über eine faszinierende Stadt.
Roger Willemsen / Ralf Tooten
BANGKOK NOIR
S. Fischer, Frankfurt am Main 2009
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