Sunday, 2 February 2025

Hauptsache Haltung

"Braucht es nicht ein bisschen mehr als nur Haltung?", fragt der Verlag. Nein, damit ist nicht das Buch gemeint, obwohl die Frage darauf genauso zutrifft wie auf die Linksliberalen, die dem Autor derart auf die Nerven gehen, dass er viel Fleiss und Energie aufgewendet hat, um seine Abneigung zu rationalisieren. Vieles, was er anführt, ist bestens nachvollziehbar, auch für jemanden wie mich, dem die Empörung über politische Arroganz und Abgehobenheit im Laufe der Jahre fremd geworden ist; ich begreife sie als systemimmanent. 

Klaus-Dieter Rieveler ist durchaus klar, dass nicht allein die Grünen heuchlerisch unterwegs sind, doch die eben ganz besonders. "Wer sich selbst bei jeder Gelegenheit als Moralapostel aufspielt, muss sich an seinen eigenen Massstäben messen lassen." Unter diesem Motto operiert Hauptsache Haltung. Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten. "Neben ihrer unerschütterlichen Überzeugung, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, haben die Linksliberalen noch zwei Alleinstellungsmerkmale: zum einem das manichäische Denken in Opfer- und Tätergruppen, zum anderen, die Überzeugung, mit den Mitteln der Sprache die Welt verändern zu können."

Nun ja, ob man mit den Mitteln der Sprache die Welt verändern kann, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen, sondern wird von Linguisten schon lange kontrovers diskutiert, und die Vorstellung im Besitz spezieller Weisheit zu sein, findet man in der uns bekannten Welt breit vertreten, auf allen Gesellschaftsebenen. Beide Phänomene deuten auf eine Überschätzung der eigenen Bedeutung hin. Dem Universum sind unsere Überzeugungen und Einsichten übrigens völlig egal.

"An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen" ist ein Kapitel überschrieben. So sehr das auch zutrifft, fällt es eben auch auf den Autor zurück, der sich einer plakativen Sprache bedient (nein, nicht durchgehend, aber immer mal wieder), die für diejenigen, denen die sachliche Auseinandersetzung wichtig ist, etwas gewöhnungsbedürftig ist. Andererseits: Dass er die taz, die Süddeutsche, die Zeit und den Spiegel als linksliberale Blätter bezeichnet, in denen sich der sogenannte Selfie- oder Nabelschau-Journalismus grosser Beliebtheit erfreue ("Hier zählt einzig die persönliche subjektive Sichtweise."), ist allerdings derart abstrus, dass man es gar nicht kommentieren mag. Zudem: Wie rechts muss man eigentlich sein, um diese Blätter als linksliberal wahrzunehmen?

"Was ist das, politische Korrektheit? Eine Allergie dagegen, Dinge beim Namen zu nennen ...", wird Pascal Bruckner zitiert. Und natürlich stimmt das. Die vielen Belege in Sachen Cancel Culture, die Klaus-Dieter Rieveler anführt, bezeugen eine Verblendung, die ich bis vor einigen Jahren noch nicht für möglich gehalten habe. Die Authentizitäts-Fans sollten sich den Florida-Golfer und verbalen Capitol-Sturm-Anstifter anschauen, der ist authentisch. Und hat übrigens auch ganz viel gemein mit Aktivisten und Aktivistinnen: Von nichts eine Ahnung, dafür zu allem eine Meinung.

 Hauptsache Haltung. Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten ist grösstenteils eine aufschlussreiche Geschichtsstunde. Kein Wunder, hat doch der Autor Geschichte, Soziologie und Journalistik studiert, weshalb er denn auch Ignoranz in Sachen Geschichte besonders schlecht erträgt. Die Beispiele, die er heranzieht, sprechen in der Tat für sich. Schmunzelnd nahm ich auch zur Kenntnis, dass die Grünen offenbar mit der Mathematik auf Kriegsfuss stehen. Nun ja, abgesehen von den Mathelehrern geht es wohl den meisten so.

"Ein fettes Bankkonto und eine sichere Anstellung helfen ungemein dabei, von den negativen Begleiterscheinungen linksliberaler Politik nichts mitzubekommen." Das ist zwar bei rechter Politik auch nicht anders, doch da der Feind des Herrn Rieveler die Linksliberalen sind ... Das ist wenig erhellend, bestätigt nur das gängige System, das ohne die Guten/die Bösen nicht auszukommen scheint, und angesichts der technischen Entwicklungen, vom Internet zur KI, offensichtlich nicht mehr allzu viel taugt.

Dass der Autor Entweder/Oder unterwegs ist, zeigt sich auch am Beispiel der Publizistin Carolin Emcke, die dazu aufrief, "nicht an Gesprächsrunden 'in einer Rahmung, die Pro und Kontra heisst'", teilzunehmen: "Wir müssen aufhören, diese Rahmung zu bedienen. Es wird uns beständig vorgemacht, es gebe zu allen Fragen gleichermassen wertige, gleichermassen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist, mit Verlaub, einfach Bullshit. Wir müssen es abschaffen." Klaus-Dieter Rieveler kommentiert: "Vernünftig diskutieren lässt sich also gemäss Emckes Auffassung also nur, wenn alle einer Meinung sind, zumindest was die Grundüberzeugungen der Moralelite betrifft." Nur eben: Carolin Emcke sagt etwas ganz anderes: Die Vorstellung, wir seien alle zu einem vernünftigen Austausch fähig bzw. daran interessiert, ist falsch. Und selbstverständlich hat sie Recht. Hinzufügen wäre noch: Man soll nicht allen die gleichen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung geben, man denke an all die uninformierten Hohlköpfe und Psychopathen, denen die Medien heutzutage eine Plattform bieten.

Die Fülle der Informationen, die der Autor vorlegt, ist beeindruckend; die vielen konreten Beispiel machen deutlich, dass das Selbstverständnis von "Aktivisten" (dass das eine Berufsbezeichnung sein kann, ist mehr als sonderbar) wohl am ehesten in persönlichen Kränkungen gründet. Ob die Ideen dieser Leute es verdienen, derart ernst genommen zu werden, wie es in diesem Buch der Fall ist, bezweifle ich. Andererseits ist es aber eben auch so (und das macht dieses Buch klar), dass es überhaupt nicht angeht, sich von selbsternannten Idealisten sagen zu lassen, wie wir denken und reden sollen. 

Klaus-Dieter Rieveler ist ausgesprochen polemisch unterwegs (Was soll das bloss sein, eine Moralelite? Kann man sich etwa selber, so man denn wollte, zur Elite ernennen? Dass es in der heutigen politischen Welt an Moral fehlt, halte ich übrigens für ein Problem) und obwohl er kenntnis- und detailreich argumentiert, ist er so recht eigentlich ein Ideologe, der gegen alles schiesst, was er unter linksliberal subsumiert. Oder mit seinen eigenen Worten: Ein kleinkarierter Besserwisser im Strebergarten. Wie heisst es doch so treffend im Talmud: Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.

Neben der persönlichen Ebene, die der Autor kräftig bedient (gemäss seiner eigenen Logik muss er sich also nicht wundern, wenn sie auf ihn zurückfällt), gibt es noch die sachliche Ebene, die sich durch eine eindrückliche Materialfülle auszeichnet und deren vielfältige Fallbeispiele für sich sprechen. Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen, ob der vielfältigen Absurditäten, die die Leute nicht nur von sich geben, sondern offenbar ernsthaft glauben."Wenn Jungs schon in der Grundschule gesagt wird", so die Spiegel-Autorin Tara-Louise Wittwer, "dass sie nicht weinen dürfen, weil starke Jungs eben nicht weinen, stauen sich die Emotionen oft jahrzehntelang an und explodieren dann. Ein bisschen so, wie bei einer Flasche Mineralwasser, extra spritzig, mit besonders viel Kohlensäure. Wenn man die ganz stark schüttelt und öffnet, weiss wirklich jeder was passiert." Und jetzt weiss auch wirklich jeder, dass Frau Wittwer nicht den leisesten Schimmer von Emotionen hat (Emotionen, die sich jahrzehntelang stauen? Wo genau? Gibt es da eine spezielle Ecke im Unbewussten?), sich jedoch mit Kohlensäure auskennt.

Wer ein eher beiläufiges Interesse an den in diesem Buch angesprochenen Themen hat, nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass diese komischen Aktivisten, zumeist humorlos, fanatisch und hauptsächlich für sich selbst unterwegs, wirklich ungeheuer aktiv sind und, angesichts ihrer doch eher kleinen Zahl, Erstaunliches bewirken, das in eine vollkommen falsche und gefährliche Richtung läuft, da es einerseits noch grössere Verwirrung anrichtet als wir eh schon haben, und andererseits zur gesellschaftlichen Spaltung beiträgt. Darüber klärt Klaus-Dieter Rieveler auf; dieses Buch ist gleichzeitig Aufklärung und Warnung. Apropos Spaltung: Fragen sollte man sich allerdings auch, ob ein gelassenes Nebeneinander einem streitenden Miteinander nicht vorzuziehen wäre.

Klaus-Dieter Rieveler
Hauptsache Haltung
Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten
FiftyFifty Verlag, Köln 2025

Wednesday, 29 January 2025

On Storytelling

 For many years, the journalism I most warmed to was storytelling. A story is commonly understood to have a beginning, a middle, and an end. In other words, it is is a construct, it doesn't represent the way things are but how our brains are able to understand them, what makes sense to us. It is fiction — for fiction we understand, reality we don't; it is too complicated.

Not so long ago (yet already pretty much forgotten), the German magazine Der Spiegel informed their readers that it had been misled. Claas Relotius, one of their most renowned reporters, who had been showered with journalism prizes, had for years invented stories. When a fellow reporter, Juan Moreno, became suspicious, he was initially not believed. Eventually, however, due to his persistence, the truth came out — and Der Spiegel had a credibility problem.

It's reaction was formidable: It laid open what it knew, invited critics to have their say — more transparency wasn't really imaginable. Then, however, I came across this, as far as I'm concerned, extremely stupid sentence: "Die meisten Reporter arbeiten absolut sauber, das muss hier noch einmal betont werden." (Most reporters work absolutely correctly, it needs to be stressed here once again). Well, this simply cannot be known. Moreover, it is the standard answer when the system should not be put into question.

The system? Journalism, I once learned, means to report things as they are, to tell it like it is. A noble endeavour, no doubt, yet rather difficult to practise for there is not one reality we can agree on, there are different versions of reality. It goes without saying that this is not a journalistic problem but a fact and a challenge for pretty much all disciplines. Just think of the law that requires judges to be impartial — the Kavanaugh nomination in the US once again made clear that in the real world this is nothing but a rather sick joke.

Differently put: What happens, happens in a social context in which people have opinions, preconceptions and preferences. Der Spiegel will hire reporters who share its ideology. There is no such thing as a Spiegel ideology? Of course there is — and it is different from Fox News — for Spiegel readers expect a certain worldview from the magazine. And, Claas Relotius delivered; his bosses were pleased.

A well-told story has not only a beginning, a middle, and an end, it also has a certain drive and makes life often seem adventurous (which it rather seldom is). I'm fond of gifted storytellers and rarely doubt the veracity of what they tell. Until someone comes and demonstrates that I had been fooled. This is not the rule, there are always some bad apples, the typical rationalisation goes.

This presumes that journalism is telling the truth when it is merely telling stories. "People who read the news in the paper or on a website, who listen to a radio bulletin or who watch television news, usually imagine they are getting something approaching the truth. Instead, they are merely getting a version of what has happened," John Simpson writes in Unreliable Sources.

Neverthless, I think the often used "Fake News" claim is bull. When Donald Trump uses it, he simply describes his pathological lying. I do however also believe that there is no such thing as unbiased reporting — to tell a story and to tell the truth often do not go hand in hand. As Jeff Jarvis writes on Twitter: "Storytelling is too often about the journalist's control of the narrative, too often about entertaining over informing."

Although equating journalism with storytelling is highly common, it is also misleading. Jay Rosen, also on Twitter (Who would have thought that such debates can be conducted with merely 128 characters), opines: "I don't know how our journalists came to see 'storytelling' as the heart of what they do, and 'storyteller' as a self-description. I can think of four to five elements of journalism more central than 'story'. Truthtelling, grounding public conversation in fact, verification ... listening."

I'm still fond of storytelling, the one that aspires to tell the truth. This requires self-knowledge and the right attitude, virtues that aren't too common among journalists — and among the rest of us.

Wednesday, 22 January 2025

"My" Japan (6)






Koga, Japan, May 2019

Wednesday, 15 January 2025

Looking at photographs

Copyright @ Ricardo Schütz 2008

The above photo was taken in Torres, Rio Grande do Sul, on 22 June 2008. We were  on a school trip. I've discovered it when going through old emails.

It is somehow baffling to look at a photo that I have no memory of ever having laid eyes on. It is a reminder of what once has been and that isn't anymore. Spending time with it arouses a mix of feelings that range from wonder and joy to melancholy.

On the left, that's me (at that time teaching English in Santa Cruz do Sul), then Kim, a fellow teacher (Studying a second language puts me in awe of how I ever learned a first one, she once said), Takako (the school prinicipal, together with her husband Ricardo), Akemi (a student of Portuguese from Paris).

No idea what has become of Kim after she returned to Pittsburgh or of Akemi. As for myself, I'm still teaching during the Brazilian summer months at Schütz & Kanomata that is now run by Takako and her daughter Elsa. Sadly, Ricardo passed away in 2021. He was a fine man and an excellent photographer.

Sunday, 12 January 2025

Das Wesentliche bezüglich des Jetzt


Das Wesentliche bezüglich des Jetzt ist ein verführerischer Titel. Und irgendwie angeberisch, denn er impliziert, der Autor wisse nicht nur, was das Wesentliche am Jetzt sei, sondern vertraue auch darauf, dass ihm sein Denken eine Antwort liefern könnte.

Jedes Ding und Wesen scheine Zeit zu brauchen, um sein zu können, lese ich. Und so einleuchtend ich das auch finde, es irritiert mich auch, setzt es doch voraus, dass es die Zeit gibt, was nicht alle glauben. So halten die in den Dakotas ansässigen Indianer Zeit für eine Illusion.

Das Wesentliche bezüglich des Jetzt ist vielfältig anregend. So notiert der Autor etwa zum "Zeithaben": "Wie kann man etwas haben, das entweder nicht mehr oder noch nicht ist?" Und er fragt sich, ob Abwesenheit ohne Zeit, was dem praktischen Verstand absurd erscheinen muss, sich vielleicht erfahren lässt. 

Man könnte auch umgekehrt fragen: Gibt es eigentlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Erfahren kann ich nämlich nur die Gegenwart. Unserem Bedürfnis nach Verstehen, nach Ordnung und Orientierung steht unsere Erfahrung der Gegenwart bzw. der Ewigkeit im Weg. Doch das wäre eine andere Geschichte ...

Einstein war gemäss Carnap offenbar der Ansicht, "es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht ausserhalb des Bereichs der Wissenschaft liege." Das liegt daran, dass Wissenschaft sich am Messen bzw. am Zählen orientiert, von dem Einstein einmal gesagt hat: Nicht alles, was zähle, könne auch gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden könne, zähle auch etwas.

Die Zeit ist verbunden mit dem Zählen und der Dauer. Die Intuition sagt uns, dass sich die Gegenwart zeitlicher Bestimmung entzieht; sie kann nicht vergehen, sie kann nur sein.

Nur eben: Ohne Zeit kann der Mensch nicht sein. "Das Leben allein in der Gegenwart, von dem Wittgenstein sagt, es sei ewig, gibt es nur in der Ohnmacht." Vielleicht stösst unser Denken aber eben auch ganz einfach an seine Grenzen, können wir letztlich nicht fassen, was nur ist.

Das Wesentliche bezüglich des Jetzt ist in zwei Teile gegliedert. Teil 1 kommt ohne Gott aus, Teil 2 landet unvermittelt bei der Schöpfung. "Die kontinuierliche Schöpfung ist keine Tätigkeit Gottes in der Zeit, sondern überall schon vollendet, wohin sich die Geschöpfe auch wenden, und überall neuer Anfang, was sie auch beginnen." Mich sprechen diese Gedanken sehr an, stehen sie doch im Einklang mit der Vorstellung, dass alles immer schon da war.

Sehr schön zeigt Malte Oppermann auf, dass der Augenblick zeitlos und vollkommen ist. Daraus folgert er aus mir unerfindlichen Gründen, gegen die ich jedoch keine Einwände habe: "In der Zeitlosigkeit und Vollkommenheit des Augenblicks ist das Sein der Geschöpfe dem Sein Gottes analog." 

Das Wesentliche bezüglich des Jetzt zeigt einleuchtend und überzeugend auf, dass das Jetzt keine Kategorie der Zeit, sondern perfekt ist. Damit verknüpft ist auch die Freiheit, die darin besteht, sich selbst sein zu dürfen. 

Den kurzen Texten sind ausführliche und überaus aufschlussreiche Anmerkungen angefügt, die sowohl erhellen als auch irritieren. "Was Gott tut, ist überall Anfang und überall Vollendung zugleich, in jedem Anfang und in jeder Vollendung unendliche Anfänge und unendliche Vollendungen bergend ...". So inspirierend ich dieses Werk auch finde, solche Sätze sind in erster Linie Rationalisierungen des eigenen Glaubens. Andererseits: Warum auch nicht? Die Auseinandersetzung mit diesem Werk lohnt allemal.

Malte Oppermann
Das Wesentliche bezüglich des Jetzt
Karolinger Verlag, Wien 2024

Wednesday, 8 January 2025

Sanug Sabai

Jim regt sich mal wieder auf. Ich höre nur mit halbem Ohr hin, denn Jim regt sich ständig über irgendetwas auf. Diesmal über ein Barmädel, das im kurzen Rock, kaugummikauend auf Stöckelschuhen die Sukhumvit entlangstolperte. "Stöckelschuhe passen doch einfach nicht hierher. Das ist doch nicht die Fifth Avenue. Die gehören alle auf den Rücken eines Wasserbüffels, in einer Stadt haben die doch überhaupt nichts zu suchen. " Das Problem mit Jim ist, dass er immer so genau weiss, was sich gehört. Und wie üblich ist er nicht zu bremsen. Jim lebt seit vier Jahren in Bangkok und er weiss, wovon er spricht, er stammt selber vom Land.

Gestern hat er sich darüber aufgeregt, dass der Postbeamte die Marken alle an den äussersten Rand des Briefumschlags geklebt hat. Es versteht sich, dass Jin genau weiss, dass das typisch thailändisch ist und mit "first wave" zu tun hat. Er hat nämlich  vor kurzem "Powershift" von Alvin Toffler gelesen, der Agrarnationen als "first wave countries" bezeichnet. Was das wiederum mit den Briefmarken zu tun hat, ist mir schleierhaft.

Jim ist 47 und war Helikopterpilot im Vietnamkrieg, ein "super-trooper", der Generale geflogen hat. Darauf ist er stolz. "Wir waren in Vietnam, um die Ausweitung des Kommunismus zu stoppen", sagt er. Und jetzt will er über seine damaligen Erlebnisse ein Buch schreiben. Für die Vietnamesen. Gott, schütze uns vor diesen wohlmeinenden Amerikanern, denke ich so für mich.

Jim und ich sind Stammgäste in einem Hotel in der Sukhumvit Gegend ...

Für mehr siehe Warum rennen hier alle so? 

Wednesday, 1 January 2025

Das Jetzt ist nicht zu fassen

Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.

Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.

Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.

*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.


Hans Durrer
Das Jetzt ist nicht zu fasen
Notizen von Unterwegs
neobooks, Berlin 2024