Wednesday, 9 July 2025

Japanese Skies

Toyohashi

Toyohashi

Koga

Koga

Toyohashi

These pics were taken with my cell phone in April / May 2019

Sunday, 6 July 2025

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Mein liebster Satz von Clarice Lispector ist Liberdade é pouco. O que eu desejo ainda não tem nome. Wo ich ihn her habe, weiss ich nicht mehr, doch er prägt mein Bild dieser 1920 als Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geborenen und im ärmlichen Nordosten Brasiliens aufgewachsenen Frau, die Jura studierte, als Lehrerin und Journalistin arbeitete und als Diplomatengattin nicht gerade glücklich auch in Bern lebte. Ein Freigeist war sie und auch ein komplizierter Mensch. „Von Krankheit und Tablettenkonsum gezeichnet, starb Lispector 1977 mit nur 56 Jahren in Rio de Janeiro“, heisst es im Klappentext, ganz so, als ob Tablettenkonsum keine Krankheit wäre.

Auf sie gestossen bin ich in Brasilien, wo ich mich regelmässig einige Monate im Jahr aufhalte und das ich, um es mit Stefan Zweig zu sagen, für „Ein Land der Zukunft“ halte, weil da vieles, jedenfalls in meiner Wahrnehmung, nicht vom Gewicht der Geschichte erdrückt wird, sondern neu entstehen kann. So kommt mir auch das Schreiben von Clarice Lispector vor: Ich habe solche Texte bisher nicht gelesen, solche Gedanken bisher nicht so ausgedrückt getroffen; das ist neu, ungewohnt und bereichernd für mich; diese Frau versteht es, intelligent zu fühlen.
Der Titel, Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau, könnte besser kaum vermitteln, was ich als wesentliche Aspekte des Wesens (und nicht etwa nur des Schreibens) dieser Autorin empfinde. Diese Ausgabe in zwei Bänden versammelt alle Erzählungen Clarice Lispectors.

Die erste, die sich übrigens wie ein Krimi liest, handelt von einem trunkenen Tagtraum, in dem die von ihrem Mann verlassene Frau letztendlich über ihren Mann triumphiert. Auch in der zweiten – mit dem Titel ‚Obsession‘ – ist die Hauptperson eine Frau, die in sehr eigenen Sphären unterwegs ist. „Ein dichter Schleier trennte mich von der Welt und, ohne dass ich es gewusst hätte, entfernte mich ein Abgrund von mir selbst.“ Sie lernt Daniel kennen, der vor allem um sich selbst kreist und sich krank fühlt, „fern von allen anderen, fern auch von dem idealen Menschen, der ein gelassenes und tierhaftes Wesen sein sollte, ein Wesen von leichter, behaglicher Intelligenz. Diesem Menschen, zu dem er sich niemals aufschwingen würde, den er unweigerlich verachtete, mit dem Hochmut derer, die leiden.“

Die Hellsichtigkeit, die aus diesen Sätzen spricht, macht mich staunen. Umso mehr, als sie aus jungen Jahren, aus der Zeit des Jurastudiums der Autorin stammen. Von Daniel lernt die Protagonistin auch: „ein Tag ohne Tränen ist ein Tag, an dem das Herz verhärtet ist, nicht etwa einer, an dem das Herz glücklich wäre … da das Geheimnis des Lebens Leiden ist. Diese Wahrheit liegt in allen Dingen.“ Und diese Wahrheit liess sie plötzlich erwachen. „Jetzt wurde ich neu geboren.“

Es versteht sich, so einfach ist es dann doch nicht, wenn man in einer Obsession gefangen ist. Sie schreibt ihm, ohne Antwort zu bekommen. Sie erforscht sich aufmerksam: „Mit vagen Worten bezeichnete ich die Qual, als könnte ich sie dadurch von mir fernhalten.“ Immer wieder erlebt sie grössere Einsichten, doch diese helfen, wenn überhaupt, erst viel später. Eindrücklicher habe ich selten über Abhängigkeit und Leiden gelesen.

Clever und witzig, schreibt diese Frau. In „Ich und Jimmy“ charakterisiert sie die Mutter der Protagonistin, die vor der Heirat freiheitlich denkend und eine Rakete gewesen war, was ihr die Ehe und ihr Mann jedoch austrieben. „Sie hat schon noch eigene Ideen, aber die lassen sich schnell zusammenfassen: Eine Frau soll stets ihrem Mann folgen, so wie die Nebensache der Hauptsache folgt (der Vergleich ist von mir, Ergebnis der Vorlesungen meines Jurastudiums).“

Eine wohltuende Leichtigkeit durchzieht dieses Schreiben, bei dem es immer wieder Sätze und Gedanken gibt, die mich staunen machen, auch weil sie Wahrheiten aussprechen, die mir überhaupt nicht bewusst gewesen sind. Etwa in „Geschichte, die abbricht“, in der die junge Frau an einem Sommertag die Fenster sperrangelweit aufreisst und ihr ist, als käme der Garten ins Zimmer herein, sie die Natur in jeder Faser spürt und dann notiert: „Ich wandte mich wieder nach drinnen, berührt von der Ruhe des Moments.“ Genial, dieses „die Ruhe des Moments“ – eine mich beglückende Erkenntnis.

Zu meinen Favoriten gehört „Eine Henne“, eine Geschichte, die mich nicht nur lachen machte, sondern geradezu Lebensfreude in mir entfachte, so originell und witzig, so fantasievoll und nüchtern, so empathisch und fantastisch ist sie – und so beginnt: „Sie war ein Sonntagshuhn. Noch am Leben, weil es erst neun Uhr morgens war.“ Doch dann fliegt sie davon. „Der Hausherr, eingedenk der zweifachen Notwendigkeit, hin und wieder Sport zu treiben und heute zu Mittag zu speisen, schlüpfte strahlend in Badeshorts und schickte sich an, dem Weg der Henne zu folgen.“ Wie’s ausgeht, soll hier natürlich nicht verraten werden …

Es sind vor allem einzelne Sätze und Halb-Sätze, die mich packen und innehalten lassen. Etwa dieser: „… neigte sich doch dazu, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sinnlos waren, wenn auch unterhaltsam.“ Dann aber auch Szenen wie diese hier: Sie will einen schwierigen, distanzierten Mann für sich gewinnen und fragt: „Wo sollte man ansetzen, wenn er sich kannte?“, doch dann hat sie eine Idee: „Aufgeregt setzte ich mich im Bett auf, und mir schoss durch den Kopf: ‚Das kam zu schnell, um gut zu sein; sei nicht gleich so begeistert; leg dich hin, mach die Augen zu und warte, dass Ruhe einkehrt.‘ Stattdessen stand ich auf und begann barfuss, um Mira nicht zu wecken, im Zimmer auf und ab zu gehen, wie ein Geschäftsmann, der auf Nachrichten von der Börse wartet. Doch ich hatte immer stärker das Gefühl, die Lösung gefunden zu haben.“ Wunderbar kindlich, berührend naiv und sehr, sehr smart – eine Kombination, die ich schlicht genial finde.



Clarice Lispector
Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau
Sämtliche Erzählungen I
Penguin Verlag, München 2019

Wednesday, 2 July 2025

On socially inclined photographers

In times when (some) photographers hold celebrity status, it is useful to be reminded that a good photograph does not solely depend on the photographer’s ability to choose the right subject, location and light, but also on the chemistry and the collaboration, between photographer and subject (…) Despite my deep sympathy for socially inclined photographers, when the people portrayed feel ashamed of their portraits, there clearly is something wrong with this kind of photography.”

Hans Durrer

Sunday, 29 June 2025

"My"Japan (5)





Taken with my mobile phone in April / May 2019.

Wednesday, 25 June 2025

Vom Staat zur Marke

Unsere Wettbewerbsmentaliät verschont keinen Bereich unserer Gesellschaft, auch der akademische Betrieb ist in hohem Masse davon betroffen. Universitätsprofessuren sind begehrt, die Konkurrenz ist gross, die Fähigkeit, sich durch neue Themensetzungen zu profilieren, ist unabdingbar. Letzterer ist auch dieses Buch zu verdanken, und ich ärgere mich nicht wenig, dass mich der dem Marketing geschuldete Titel dazu verleitet hat, mich damit auseinanderzusetzen, denn der Erkenntniswert ist gering.

Dass Staaten für sich werben, um damit an Einfluss zu gewinnen, ist nichts Neues. "Dabei sind Staat und Nation keinesfalls dasselbe." Spätestens bei diesem Satz weiss ich, dass ich das gängige  akademische Buch vor mir habe, das sich wesentlich in Definitionen, Abgrenzungen und Differenzierungen erschöpft. "Die historische Flugbahn und ideologische Struktur eines Landes spielen eine entscheidende Rolle bei dem Bemühen um seine Imagekontrolle. " Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand bezweifelt, denn die Aussage ist allgemein genug, um sich der Zustimmung aller sicher zu sein.

Die Autorin Jessica Gienow-Hecht, seit 2019 Professorin und Leiterin der Abteilung Geschichte am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin, gibt keineswegs vor, eine bahnbrechende Entdeckung gemacht zu haben und stellt erfreulich nüchtern fest: ""Dieses Buch hat eine einfache Kernbotschaft, die ich im Verlauf immer wieder darlegen und anhand von Beobachtungen überprüfen werde. Sie lautet: Seit dem Ersten Weltkrieg hat sich die Nation zu einem Markenprodukt entwickelt, das bis zum Fall des eisernen Vorhangs von staatlichen Regierungen erheblich 'bespielt' wurde."

Vom Staat zur Marke ist klar strukturiert, die einzelnen Kapitel werden jeweils am Kapitelende zusammengefasst, allerdings war mir das Ganze zu akademisch in dem Sinne, dass das "Es kommt drauf an-Stereotyp" (das selbstverständlich seine Richtigkeit hat) dominierte. "Natürlich unterschieden sich Botschaften, Zielgruppen und Erwartungen im Einzelnen abhängig von Land und Regierungsform." 

Nichtsdestotrotz: Vom Staat zur Marke ist reich an konkreten Beispielen. Man lese etwa die detaillierten Ausführungen zu den Bemühungen der Region Katalonien, sich international zu positionieren, wozu auch die Repressalien des spanischen Staates beitragen. Letzteres macht auch deutlich, dass die Wahrnehmung einer Nation vor allem davon bestimmt wird, wie diese öffentlich auftritt. so sind etwa die Unterschiede zwischen Russland, China und den Emiraten eklatant.

Es sind die vielen überaus illustrativen Beispiele von gelungenem Nation Branding, die Vom Staat zur Marke lohnen, wie etwa die Trauerfeier für die Queen im September 2022, die gleichzeitig allerbeste Werbung für das britische Königshaus war. Die detailreiche Schilderung dieses Megaevents zeigt auch sehr schön auf, dass es die Details sind, die zählen. Übrigens: Das gelungenste Negativ-Branding weltweit kommt gegenwärtig von der Regierung der USA, das die Branding-Spezialisten natürlich positiv zu wenden trachten, indem sie das Verhalten des impulsiven Chaoten an der Spitze als strategic ambiguity zu labeln versucht.

"Die Herausforderung für Zivilgesellschaft und Regierungen besteht darin, gemeinsam und selbstbewusst ein authentisches und liberales, attraktives und vor allen Dingen widerstandsfähiges Markenprofil zu entwickeln und zu kommunizieren. " Allerdings könnte das so oder ähnlich auch in jedem demokratischen Parteiprogramm stehen. Und das ist mir dann doch zu wenig.

Jessica Gienow-Hecht
Vom Staat zur Marke
Die Geschichte des Nation Branding
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 22 June 2025

Zur Hölle mit dem Krieg!

Was mich zuallererst für diese Schrift einnimmt, ist die Tatsache, dass sowohl der Autor wie auch der Verfasser des Vorworts, Militärs sind. Smedley D. Butler war General des US-Marine-Corps, Erich Vad war Brigadegeneral der Bundeswehr. Sie kennen also das Kriegsgeschäft aus eigener Erfahrung. Ganz im Gegensatz zu den Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern, die die Talkshows bevölkern, von Medienleuten interviewt werden und auch ungefragt ihre Ansichten in die Gegend posaunen.

Zur Hölle mit dem Krieg! ist Ausdruck eines engagierten Geistes, der weder Zeit noch Energie für den üblichen Unsinn aufwenden mag, mit dem wir politisch und medial zugemüllt werden. Stattdessen nimmt er diejenigen ins Visier, die vom Krieg profitieren. Dass diese Leute sich selber raushalten, überrascht nicht; dass andere für sie zu sterben bereit sind, hingegen schon. Mit "'Durchhalten' sagte der Marschall und froh", betitelte Ernst Müller-Meiningen jr. 1957 einen seiner Artikel in Das Jahr Tausendundeins. Eine deutsche Wende?

Zur Hölle mit dem Krieg! erschien 1935; sein Autor ist kein Gegner des Militärs. Auch ist er nicht so naiv zu glauben, dass der Krieg der Vergangenheit angehören könnte. Ihm geht es darum, den Profit aus dem Krieg herauszunehmen; diejenigen über den Krieg entscheiden zu lassen, die ihn auch führen müssen; sowie den Einsatz der Streitkräfte auf die Landesverteidigung zu beschränken.

Das ist einleuchtend, vernünftig und hat wohl genau deswegen keine grosse Chance, Realität zu werden. Insbesondere seine Idee einer begrenzten Volksabstimmung, "ob der Krieg überhaupt erklärt werden soll. Ein Volksbeschluss nicht aller Wähler, sondern nur derjenigen, die zum Kämpfen und Sterben herangezogen werden, wäre nötig." überzeugt. Und wäre so recht eigentlich auch für andere Abstimmungen in Erwägung zu ziehen. Das wäre dann für einmal eine andere Demokratie als die des Geldes.

"Wer erzielt die Gewinne?" und "Wer bezahlt die Rechnungen?" lauten zwei der Titel in dieser Schrift. Und ich wundere mich wieder einmal, dass dies keine Fragen sind, die in öffentlichen bzw. medial inszenierten Debatten thematisiert werden. Aus gutem Grund, so ist zu vermuten, denn dann würden  Parolen wie "Krieg, um Kriege zu beenden" und "Krieg, um die Demokratie sicher zu machen" als das erkannt, was sie sind: Ablenkung, Vernebelung, Propaganda.

Möge Zur Hölle mit dem Krieg! ganz viele Menschen erreichen, damit wir nicht weiter auf die Instrumente der Massenpsychologie, die zum Ziel haben, uns zu willenlosen Befehlsempfängern zu machen, reinfallen. Denn nicht nur der Krieg dient dem Profit, wie Smedley D. Butler betont: "Für einige wenige bringt dieses Geschäft wie auch der Schmuggel und andere Unterweltgeschäfte, schöne Gewinne ein – aber die Kosten werden immer auf das Volk abgewälzt, das nicht davon profitiert."

Zur Hölle mit dem Krieg! ist ein überzeugend argumentiertes, an Fakten orientiertes Plädoyer gegen das Geschäfte-Machen mit dem Krieg.

Smedley D. Butler
Zur Hölle mit dem Krieg!
Herausgegeben von Erich Vad
Fiftyfifty Verlag, Köln 2025

Wednesday, 18 June 2025

Hiroshima

Den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki waren flächendeckende Brandbombenangriffe auf Tokio vorangegangen. "Bei den etwas mehr als fünf Monate dauernden Bombardements kamen nach offiziellen Statistiken insgesamt 269 187 Menschen ums Leben." Und dies obwohl die vorherrschende Meinung der amerikanischen Luftstreitkräfte in Sachen Flächenbombardement von Städten weder als moralisch vertretbar, noch als strategisch sinnvoll angesehen wurde. Wie kam es also 1945 zu einer solchen Radikalisierung der Kriegsstrategie? Und wie kam es zu den fragwürdigen moralischen Relativierungen, die darauf abzielten einen rücksichtslosen totalen Krieg zu rechtfertigen?

Natürlich kann man das letztlich nicht wissen, doch man kann wohlbegründete Vermutungen anstellen. Und genau dies tut Richard Overy, detailreich und differenziert. Einfache Erklärungen gibt es nicht, stellt er fest; die Kehrtwende, die sowohl zu den Flächenbombardements und zu den Abwürfen der Atombomben geführt haben, hat vielfältige Ursachen, nicht zuletzt der Druck, Resultate zu liefern, unter dem die Luftstreitkräfte standen.

"Der am häufigsten angeführte Grund für dieses Verhalten war der Ehrgeiz der Army Air Force, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Japan zu leisten, um mit den Anstrengungen der US Army in Südostasien und der US Navy im gesamten Pazifikraum mithalten zu können." Dazu kam die Rache an dem Feind. 

Da Rache nicht zu den edlen Gefühlen gerechnet wird, musste ein anderer Grund her, einer, der die Japaner abwertete und entmenschlichte. Sie wurden kollektiv wie Tiere angesehen, als Affen, Ungeziefer oder Insekten. Der Autor zitiert amerikanische Generale mit Worten, die (wie immer) mehr über sie selber, als über ihre Feinde aussagen. 

Die zweijährige Seeblockade der US Navy hatte Japan von den lebenswichtigen Rohstoff- und Öllieferungen abgeschnitten, die Zerstörungen und sozialen Umbrüche, die von den konventionellen Bombenangriffen verursacht wurden, führten jedoch nicht zur Kapitulation.

Niemals hätte man Tokio mit Bodentruppen angegriffen, das Risiko verwundet oder getötet zu werden, war viel zu gross. Geduld hatte man auch nicht. Und so entschied man sich, zu tun, was man heute noch tut: Grösstmöglichen Schaden anrichten, ohne dabei selber Schaden zu nehmen. Das funktioniert am ehesten, wenn man den Feind nicht mehr als Menschen wahrnimmt

 Richard Overy schildert aufwühlend, was  Bombenexplosion auf dem Boden anrichteten. Ein Feuersturm raffte alles hinweg, 92 Prozent der Gebäude der Stadt waren zerstört. "Die Verletzten und Toten konnten nicht fortgebracht werden, da es an Zügen und Fahrzeugen fehlte." Viele der Überlebenden machten nach Kriegsende die Erfahrung, dass sie ausgegrenzt wurden, denn die wenigsten wollten an den Krieg erinnert werden. Hiroshima zeigt auch eindrücklich, wie unterschiedlich in Japan und Amerika mit dem Abwurf der Atombombe umgegangen wurde.

"Die Entrüstung über den Überraschungsangriff auf Pearl Harbour beherrschte die Meinungen der Amerikaner über den japanischen Feind." Dass die Abwürfe der Atombomben eine Gräueltat war, wussten auch die Amerikaner, und so beeilte sich das amerikanische Militär, zu betonen, dass man Ziele angegriffen habe, die, in der Worten der Militärs, "ausreichend militärischer Natur waren, um nach den Regeln der zivilisierten Kriegsführung einen Angriff zu rechtfertigen." Unabhängige Berichterstattung wurde zensuriert, insbesondere über die Auswirkung der Strahlungen durfte nicht berichtet werden.

Hiroshima ist ein eindrückliches Werk, das uns vor allem vor Augen führt, dass der Mensch weder zivilisiert noch eine erfreuliche Spezies ist. Sein Talent zum Selbstbetrug ist sein grösstes. So behauptete Präsident Truman, der Abwurf der Atombombe über Hiroshima sei in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht erfolgt. Und: "Auf dem Stützpunkt segnete der Militärpfarrer die Crew vor dem Einsatz und bat Gott für sie um Kraft." !!! Man fasst es nicht, glaubte damals, so etwas sei nicht mehr möglich, doch der Mensch ist wie er ist, und solange er nicht ein anderer wird, wird sich niemals etwas ändern.

Überaus aufschlussreich (und desillusionierend) sind die juristischen Versuche, Bombenangriffe auf Zivilisten zu ächten. Definitionen, Interpretationen, Rechtfertigungen zuhauf. Die Haager Luftkriegsregeln, das Kriegsvölkerrecht, die Genfer Konventionen inklusive der Zusatzprotokolle – niemand hält sich dran. Die Hoffnung von Oppenheimer and anderen, "die Erfahrung einer einzigen Atombombenexplosion würde ausreichen, um eine Welt ohne Kriege zu schaffen", hat sich als Illusion erwiesen.

Richard Overy 
Hiroshima
Wie die Atombombe möglich wurde
Rowohlt Berlin 2025

Sunday, 15 June 2025

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland

Was wirklich auf der Welt los ist, erfahren wir nicht aus öffentlichen Debatten über Migration oder Neutralität, sondern aus gelegentlichen Blicken hinter die Kulissen. Dabei wird auch deutlich, dass vieles durchaus bekannt ist bzw. sein könnte, auch wenn es selten im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht. Dies versucht Schmutzige Geschäfte im Niemandsland zu korrigieren.

Atossa Araxia Abrahamian beginnt Schmutzige Geschäfte im Niemandsland mit dem Versuch, Genf, die Stadt ihrer Kindheit, zu beschreiben. Neben der offenkundigen Internationalität ("Fast die Hälfte der Genfer Bevölkerung stammt ursprünglich nicht aus der Schweiz.") ist da noch etwas anderes im Gange. etwas Unsichtbares. Sie legt dar wie ihre "Heimatstadt Genf und ihre Nation, die Schweiz, durch die Menschen, Kriege und Gesetze, die sie prägten, das Fundament für die heutige Welt geprägt haben. Sie werden entdecken, wie das Schweizer Modell andere Staaten dazu inspirierte  ..". Die Gründe dafür sucht sie in der Geschichte. Es ist dies der allgemein gängige Ansatz, der leider das wirklich Wesentliche (Was ist es, dass die Schweiz zu einer so erfolgreichen Hehler-Nation hat werden lassen?) aussen vor lässt, auch wenn er durchaus Interessantes zu Tage fördert.

Dass diese kleine Stadt und dieses kleine Land, von dessen Territorium sechzig Prozent nicht bewohnbar sind, zu einem derart mächtigen Offshore-Finanzplatz werden konnten, verwundert und befremdet.

Die Schweizer sind ein ausgesprochen geschäftstüchtiges Volk. Die Autorin zitiert dazu Jean Ziegler: "Sie verkauften ihre Landsleute als Söldner an ausländische Regierungen." Ziegler sieht die Schweiz als Ermöglicher des Kapitalismus hinter den Kulissen. Ein Ausfluss des Calvinismus? Auf jeden Fall wird dieses Land von einem sehr speziellen Geist regiert, zu dem eine ziemlich einzigartige Heimlichtuerei sowie das Fehlen eines Unrechtbewusstseins gehört.

Atossa Araxia Abrahamian lebt heute in New York, beschreibt also aus der Distanz "die Macht über die 41 000 Quadratkilometer und darüber hinaus", die in der Mitte Europas liegt. Mit dem Söldnerwesen wurde die gesellschaftliche Stabilität (aufrührerischen jungen Männern verschaffte man einen Arbeitsplatz und hielt sie fern des Heimatlandes) geschaffen, die die Schweiz auch heute noch auszeichnet. Dazu kam der Nationalcharakter, der sich durch die Fähigkeit, Regeln aufzustellen und Gesetze zu erlassen (26 Staaten mit je eigener Verwaltung, Regierung, Parlament für verhältnismässig wenige Leute) von anderen Staaten unterscheidet.

Doch nicht nur von der Schweiz ist die Rede, sondern auch von Singapur, Luxemburg, La Réunion mit seiner Exportproduktionszone, den Offshore-Asyllagern auf Manus und Nauru, Boten und Spitzbergen. Ob dabei globale Unternehmen und Superreiche Regierungen austricksen, wie der Untertitel behauptet, finde ich jedoch fraglich; mein Eindruck ist, dass diese Exterritorialität, geschaffen mit juristischen Tricks, von den Regierenden durchaus gewollt ist.

"Kapitalisten, unentwegt auf der Jagd nach Profit, betrachten Offshore-Rechtsräume als ihr Niemandsland." Damit ist im wesentlichen umrissen, wovon dieses Werk handelt. An anderer Stelle formuliert die Autorin es so. "Wenn Regeln die Reichen begünstigen, brauchen die Reichen nicht gegen die Regeln zu verstossen."

Der Untertitel dieses Werkes, Wie globale Unternehmen und Superreiche unsere Regierungen austricksen, mag Verschwörungstheorien nahelegen, doch weit gefehlt. Wie kommt es eigentlich, dass es Zollfreigebiete gibt? Diese sind eine juristische Fiktion, denn Zollfreilager sind ausgedachte Orte mit ausgedachten Regeln. "Die juristische Person ist in den USA das am meisten verbreitete Beispiel einer Rechtsfiktion: Wir wissen, dass Unternehmen keine Personen sind, und doch geniessen sie im politischen Leben und vor Gerichte den Status einer 'Person'".

So recht eigentlich ist ganz vieles, was die globale Wirtschaft möglich macht, eine juristische Konstruktion, man könnte auch sagen, eine Anomalie. So unterstehen etwas Botschaften, Freihäfen, Steueroasen, Containerschiffe, arktische Archipele und tropische Stadtstaaten keiner nationalen Gerichtsbarkeit. "Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 193 aktive 'Freihandelszonen', die von den Zollvorschriften befreit sind." Da all dies legal ist, müsste so recht eigentlich der Begriff Rechtsstaat eine Korrektur erfahren.

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland ist eine detailreiche, gut geschriebene, mitunter etwas langfädige Aufklärung über ein eigentliches Paralleluniversum für Wohlhabende, eine juristische Fiktion sondergleichen, die auch deswegen möglich ist, weil sich selten jemand darüber Gedanken macht. Zum Aufschlussreichsten an diesem Werk gehören die Ausführungen zum Weltraumgesetz, das Atossa Araxia Abrahamian so kommentiert: "Das Ansinnen, die Gesetze der Menschen auf ein so weitläufiges, so unergründliches und so zeitloses Reich anzuwenden, ist so fruchtlos und egozentrisch, dass auch nur der Mensch darauf kommen konnte. Aber bei Gott, genau das haben wir getan."

Atossa Araxia Abrahamian
Schmutzige Geschäfte im Niemandsland
Wie globale Unternehmen und Superreiche
unsere Regierungen austricksen
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

Wednesday, 11 June 2025

"Macht ein Foto!"

Eine Brasilianerin, die angeblich nicht einmal von ihrer Schwangerschaft wusste, hat vor einigen Jahren auf einem Flug von Neuseeland nach Chile ein Mädchen zur Welt gebracht. Hier ein  Zeitungsbericht aus dem Jahre 2007.

Die 37-jährige australische Ärztin Jenny Cook, die mit an Bord war, leistete Hilfe bei der Geburt eines Babys auf einem Überseeflug. Die Geburt über dem Pazifik sei besonders bemerkenswert, weil das Baby in einer komplizierten Steißlage mit den Füßen voran auf die Welt kam, schreibt der Daily Telegraph in Sydney am Sonntag.

In solchen Fällen entscheiden sich Ärzte meist für einen Kaiserschnitt. ,,Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde'', sagte die Ärztin der Zeitung. ,,Falls ich irgendwelche Schnitte hätte vornehmen müssen, hätten sie mir dann ein Plastikmesser in die Hand gedrückt?'' Die Ärztin aus Adelaide sei von der Fluggesellschaft LAN Chile mit einem Wechsel in die erste Klasse des Flugzeuges und einer Flasche Champagner belohnt worden. Das Kind habe den Namen Barbara erhalten.

Die Ärztin berichtete, sie habe das Baby in der Nähe der Toiletten mit Unterstützung der Kabinencrew und einer Erste-Hilfe-Ausrüstung auf die Welt gebracht. Die 26 Jahre alte Mutter namens Aline habe zuvor über Rückenschmerzen geklagt. Sie habe darauf beharrt, nicht schwanger zu sein, auch noch, als die Fruchtblase bereits geplatzt sei.

Danach sei alles ganz schnell gegangen, berichtete die Geburtshelferin der Zeitung: ,,Ich hab das Baby hochgehoben und seiner Mutter auf den Bauch gelegt. Die Stewardessen sagten: ,,Was sollen wir nun machen?'' und ich sagte: 'Macht ein Foto.'''

Die Geburt liege schon drei Wochen zurück, sei aber erst nach Rückkehr der Ärztin nach Australien bekannt geworden, schreibt die Zeitung. Auf ihrem Rückflug nach Australien sei Cook vom Piloten mit einem Kuss und einer Flasche Parfüm begrüßt worden. Die Brasilianerin habe ihr inzwischen eine E-Mail geschickt und berichtet, dass es ihr und der kleinen Barbara gut gehe.

Sunday, 8 June 2025

Cultural Markers

 

Uruguiana, Brazil, 25 Februaray 2025

It goes without saying that literally anything can serve as a cultural marker. In Brazil, one such marker I consider the artistry with which electricty is handled as the two pictures here illustrate.

Another is the cleanliness and the absence of it of public toilettes at busstations. In Rio Grande do Sul: The one of Santo Angelo that I most recently visited was in such a state that I immediately decided to forget my need to use it; The one in Santa Maria however was a model of cleanliness.

On the inside of my hotelroom in Santa Maria a note said: Atenção: Não colocar roupas para secar nas janelas (Attention: Do not use the windows to hang clothes to dry.) I was reminded of a similar note that I once encountered in Tapes: Por favor, não utilize a toalha de rosto ou de banho para limpar os sapátos (Please, do not use the face towels or the bath towels to clean your shoes). My inquiry revealed that this seemed to be a local custom.

One of the most indicative cultural markers is of course traffic. In Brazil, a zebra crossing is rarely respected, neither are speed limits. A former student of mine once told me that when in Canada, he waited  at a zebra crossing when a car stopped. He didn´t trust what he saw and so he continued to wait until quite some cars were standing in line. So  he finally decided to give it a try and ran quickly to the other side of the street.

My favourite Brazilian cultural markes is language. In Portuguese, for instance, you learn with the experience and not from it. Also, the most used expression is very probably pode ser (can be, could be, may be). To me, that means that nobody is really in charge. I find this a very realistic view of the world

Santo Angelo, Brazil, 26 February 2025

Wednesday, 4 June 2025

Übung in Gehorsam

Eine junge Frau, die mit ihren Altersgenossinnen, die sich, "sei es durch Heimtücke oder überragendes Geschick, ihren Platz im Leben und in ihren Wunschberufen gesichert" haben, wenig gemein hat und als Hilfskraft in einer Anwaltskanzlei arbeitet, wird von ihrem Bruder, der, von seiner Familie verlassen, alleine in einem nördlichen Land lebt, gebeten, sich während seiner geschäftlich bedingten Abwesenheiten um seinen Haushalt zu kümmern.

Sie sagt zu, während der ersten Tage gehen ihr Kindheitserinnerungen und Gedanken an ihre Zeit in der Anwaltskanzlei durch den Kopf. "Man könnte sagen, dass mein mangelndes Interesse am Inhalt meiner Tätigkeit ein Versagen der Fantasie, wenn nicht gar einen Akt der Feigheit darstellte." Angesichts der Tatsache, dass die Kanzlei einen multinationalen Öl- und Gaskonzern vertrat, könnte man es allerdings auch als Selbstschutz sehen.

Der Bruder fährt weg, sie findet zur Ruhe. Ihre Sinne beginnen sich nach aussen zu richten, aufs Gras, die Äste. "Es war verwirrend, so regelmässig im Wald umherzuwandern, die verblüffenden und unmöglichen Veränderungen von einem auf den anderen Tag abzustecken. Mir wurde schwindlig von all dem. Ich hatte das Gefühl, mich an etwas Vergessenes zu erinnern. Zum einen war das der Wind. Zum anderen die Stille ...". Ganz wunderbar, diese Wahrnehmung, die auch deutlich macht, dass die Sinne vor allem hilfreich sind, wenn sie, wie es in  ihnen angelegt ist, nach aussen gerichtet werden.

Die junge Frau spricht die Sprache der Gegend nicht. Obwohl sie sich Mühe gibt, und sprachlich talentiert ist, bleibt nichts hängen. Einkaufen kann sie zwar auch ohne zu reden, doch wie sie ihren Aufenthalt im Laden schildert, hat etwas Gespenstisches.

Sie denkt über das Leben von Kohlköpfen nach. Und über Grünkohl, Senfblätter und Knoblauch. "Ich war bemüht zu lernen, indem ich blieb, wo ich war." Ein Satz, bei dem zu verweilen sich lohnt, auch weil wohl die meisten unbewusst davon ausgehen, wer etwas lernen wolle, müsse weggehen. Die junge Frau scheint ihrer Bestimmung zu folgen. "Es war, als wäre ich angetrieben von einer äusseren Kraft, die mein Tun lenkte ...".

Sie erkundet die Gegend, und erlebt den Argwohn, den man Neuankömmlingen generell entgegenbringt in ihrem eigenen Fall als besonders zielgerichtet. "Ich kehrte von diesen Ausflügen erschöpft zurück, als hätte mich das Land, dem meine Anwesenheit bis dahin in jeder Beziehung gleichgültig gewesen war, schliesslich voller Unwillen bemerkt und arbeitete nun an meiner Vertreibung."

Die junge Frau war ihr Leben lang eine Aussenseiterin gewesen, "irgendetwas in meinem Blut vermittelte mir dieses Gefühl, und irgendetwas darin vermittelte auch anderen dieses Gefühl, dass ich irgendwie merkwürdig war, fremd, nicht vertrauenswürdig." Es gelte, notiert sie einmal, ihre aussergewöhnliche Überheblichkeit und Selbstliebe zu beugen. Auf mich wirkt sie jedoch überhaupt nicht so, auf mich wirkt sie, als ob sie ganz einfach ihren vorgegeben Weg geht, zu dem auch gehört, dass sie sich nicht unterordnen kann/mag/will.

Übung in Gehorsam kreist um eine Grundsatzfrage, die Frage der Zugehörigkeit, und ob diese ein Ort sein kann. Haben wir unser Schicksal in der Hand oder ist alles eine Frage der Vererbung? Gute Fragen zeichnen sich dadurch aus, dass man sie schwer beantworten kann. Doch darum geht es nicht, es geht um die Auseinandersetzung, und die vorliegende ist so hoch differenziert, dass es eine wahre Freude ist.

 Was dieses Buch auszeichnet, ist das eigenständige Denken der Autorin, "Wie unausweichlich waren einmal beschrittene Wege! Aber wenn etwas geschehen konnte, und ja auch ständig geschah, folgte daraus nicht, dass genauso gut gar nichts geschehen konnte. Womöglich entwickelte man in späteren Jahren die Fähigkeit scharf zu bremsen, schliesslich stehenzubleiben und sich auf den Weg zu setzen, müde war man geworden, die Füsse waren wund, die Stiefel durchgescheuert." Soviel Hellsichtigkeit wünscht man auch anderen Romanen, denn obwohl ganz vieles vorgezeichnet scheint, die Möglichkeit, scharf zu bremsen gibt es ebenso, sofern man sie ins Bewusstsein lässt – und handelt.

Übung in Gehorsam ist ein sehr dichter, vielfältig anregender, philosophischer Roman, der unter anderem fragt, ob man weiterleben darf, weil man zufällig nicht umgebracht wurde und entkommen konnte. Um die Schlussfolgerung der jungen Frau wirklich schätzen zu können, sollte man sich mit diesem Buch auseinandersetzen.

Sarah Bernstein
Übung in Gehorsam
Roman
Wagenbach, Berlin 2025

Sunday, 1 June 2025

Kreuzberg die Welt

Als ich vor nunmehr 25 Jahren begann, mich ernsthaft mit Fotografie auseinanderzusetzen, galt mein Interesse der Presse- sowie der Dokumentarfotografie. Blättere ich jetzt durch Kreuzberg die Welt mache ich in zweifacher Hinsicht eine Zeitreise. In ein Kreuzberg, das es so nicht mehr gibt und in eine Zeit, in der Fotografien wie die von Wolfgang Krolow zu denen gehörten, die damals meine Welt waren.

Eingeleitet wird dieser Band durch ein informatives Porträt des Fotografen und Menschen Wolfgang Krolow durch Rainer Wendling, der dessen Momentaufnahmen überaus treffend als "gestaltete" Fotografie charakterisiert. Bedauerlicherweise hat er seinem Beitrag ein Zitat vorangestellt, in dem unter anderem behauptet wird: "Nichts ist, wie es scheint ...". Nun ja, das Wesen der Fotografie ist der Schein.

Die Fotografien von Wolfgang Krolow dokumentieren ein buntes Nebeneinander, das für diejenigen, die ein Auge und ein Herz dafür haben, immer schon faszinierend gewesen ist. Es sind Schwarz/Weiss-Aufnahmen, die mich ungemein ansprechen, was wesentlich damit zu tun hat, dass Wolfgang Krolow ein ziemlich einzigartiger Sinn für Komposition eignet.

In diesen Bildern manifestiert sich ganz vieles: Sozialkritik, die sich in der Sujet-Wahl zeigt (Häuserbesetzungen, Gedenkdemonstrationen ...), die Lebensfreude spielender Kinder, Punks, Strassenkünstler, Häuserfassaden, verlassene Plätze, alte Menschen, und und und. Allein die Anordnung der Bilder ist ein Meisterwerk. Da hat einer hingeschaut, ganz viel gesehen und festgehalten, was er teilen wollte. Wir sehen Kreuzberg mit den Augen (und durch die Linse) von Wolfgang Krolow. Das heisst nicht, dass wir sehen, was er gesehen hat, das heisst, dass wir vor Augen haben, was er uns zeigen wollte.

Was mir fehlt, sind Informationen zu den Bildern, ausführliche Informationen, nicht nur Stichworte wie Polizeiaufmarsch oder Demo gegen Nato, Aufrüstung und Raketenstationierung. Das ist zwar gängige Praxis bei Fotobüchern, aber eben gänzlich unbefriedigend. Mir einfach Bilder vor die Nase zu werfen und zu behaupten, diese sprächen für sich selber, finde ich etwas billig. Natürlich trifft dies nicht auf alle Bilder in diesem beeindruckenden Band zu, denn spielende Kinder oder Aufnahmen, die aus rein ästhetischen Gründen gemacht wurden, brauchen wirklich nicht erklärt zu werden. Die Aufnahmen von besetzten Häusern oder von Polizeieinsätzen gehören hingegen kontextualisiert, Bild für Bild braucht es erläuternden Text, der sich an den journalistischen Ws orientiert (Wer, Was, Wo, Wann, Wie).

Der mich am meisten ansprechende Text (es gibt insgesamt vier) stammt von Mustafa Akça, der Bezug auf einzelne Bilder nimmt und auch ausführt, was emotional mit ihm passiert, wenn er diese Aufnahmen anschaut. Dabei haben es ihm vor allem die Kinder angetan; mir selber ging es ebenso. Doch auch die Fotos einzelner alter Menschen, die ein Verloren-Sein in dieser Welt ausstrahlten, berührten mich sehr.

Im Beitrag von Sebastian Lux wird Wolfgang Krolow mit der Aussage zitiert, es sei sein "erklärtes Ziel" gewesen, mit seiner Fotografie "Widerstandskultur zu fördern"., was er so erläutert: "Für mich waren das einfach interessante Motive, die aber gleichzeitig auch etwas beitragen sollten zur Veränderung." Wir das konkret geschehen soll, erschliesst sich mir zwar nicht, denn Fotos tun nichts anderes (können nichts anderes tun) als Festhalten, was einmal gewesen ist. Dazu kommt, dass niemand wirklich weiss, was Fotos auslösen, auch deshalb haben die Militärs Angst vor Bildern toter Soldaten.

Es versteht sich: Wer mit Kreuzberg vertraut ist, wird diese Fotos anders sehen als ich, ein Schweizer, der schon viele Jahre nicht mehr dort war. Und wer mit Wolfgang Krolows Kreuzberg vertraut ist, wird diese Fotos gerade noch einmal anders sehen. Mich selber stimmten nicht wenige der Aufnahmen melancholisch (was ich als positiv empfinde), für mich sind sie (nein, nicht alle, natürlich nicht, die Mehrzahl sind eindeutig einem politisch aufklärerischen Drang geschuldet) die berührenden und überzeugenden Werke eines Romantikers (und auch das meine ich positiv), mit einem ganz wunderbaren Sinn für Situationskomik und Ästhetik.

Kreuzberg die Welt
Fotografien von Wolfgang Krolow
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2025

Wednesday, 28 May 2025

Bibel. 100 Seiten

Zuallererst: Die Bibel, das sogenannte Buch der Bücher, ist so recht eigentlich gar kein Buch, "sondern eine Schriftensammlung, von der unterschiedliche Teile in unterschiedlichen Jahrhunderten und sehr unterschiedlichen sozialen Milieus überliefert sind." Um 100 nach Christus enthielt der christliche Kanon vier verschiedene Versionen der Jesusgeschichte: die Evangelien des Matthäus, des Markus, des Lukas und des Johannes. Es gab zwar noch mehr Evangelien, darunter das Thomasevangelium, doch die wurden redaktionell aussortiert. Obwohl der Plot in allen vier Evangelien derselbe ist (Geburt, Leben, Reden, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth), differierten die Sichtweisen beträchtlich. "Man wollte die Vielfalt der Zeugnisse erhalten und damit jeglichem Fundamentalismus Einhalt gebieten", so Johanna Haberer. Vielleicht wusste man aber schlicht nicht, wer der Wahrheit am nächsten kam.

Die Kulturen des Abendlandes gründen auf dem Christentum, also der Bibel. "Wir können wesentliche Züge der westlichen Kultur nur verstehen und entschlüsseln, wenn wir die Schriften der Bibel kennen", behauptet die Autorin. Dass eine Theologieprofessorin so argumentiert, verwundert nicht, doch die westliche Kultur versteht man meines Erachtens dann am besten, wenn man sich ganz einfach ansieht, was sie vorlebt – und das scheint mir wenig christlich, man denke etwa an: Du sollst nicht lügen. So wählten etwa in Amerika viele sich christlich Wähnende einen notorischen Lügner zu ihrem Präsidenten.

Nichtsdestotrotz: Die Bibel hat unser Menschenbild geprägt. Das biblische Menschenbild begreift den Menschen als mit der Gabe ausgestattet, sich frei entscheiden zu können, sowie Entscheidungen zu bereuen, zu revidieren, und sich neu ausrichten zu können. Ob wir wirklich so frei in unseren Entscheiden sind, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Gut gelungen ist die Auseinandersetzung mit der Frage "Wer oder was ist Gott'", wobei, neben der Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch in der Wüste, auch Gedanken von Ludwig Wittgenstein und Max Frisch beigezogen werden. Hier nur soviel: Es ist eindeutig einfacher, zu sagen, wer oder was Gott nicht ist.

Es spricht sehr für dieses Buch, dass es durchgehend auf die verschiedenen Lesarten der Bibel aufmerksam macht, Dass etwa der Turmbau zu Babel dergestalt interpretiert wird, "als fürchte Gott sich vor seinem eigenen Geschöpf und dessen technischem Fortschritt", charakterisiert Johanna Haberer als speziell christliche Wahrnehmung. "In der jüdischen Auslegung fehlt dieses Motiv, hier wird die Schuld der Babylonier vielmehr in der Unterdrückung der Individualität gesehen."

Obwohl katholisch aufgewachsen (Messdiener, Klosterschule), die Dreifaltigkeit bzw. den "Heiligen Geist" habe ich nie begriffen. Laut Frau Professor Haberer handelt es sich dabei "um eine Kraft, die lebendig macht, als eine unerklärliche Magie des Lebens." Eine sehr eigenwillige Auslegung, wie ich finde, auch wenn sie mir gefällt. Wir alle kennen solche magischen Momente, in denen etwa ein Funke überspringt, etwas geschieht das stimmig und doch nicht wirklich fassbar ist. Irritierend fand ich jedoch, dass die Autorin Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau als einen solchen Moment begreift. Für mich war das nichts anderes als eine Inszenierung für die Kameras.

Die jüdisch-christliche Kultur stellt sich auf die Seite der Armen, der Entrechteten, ohne allerdings den Reichtum a priori zu verurteilen. Das ist ein ziemlicher Spagat, bei dem die Benachteiligten meist das Nachsehen haben. Ja, so recht eigentlich ist vieles Christliche in der modernen Welt kaum mehr präsent. "Soziale Beziehungen werden ausschliesslich in den Kategorien des Handels bewertet, und nur wer gibt, hat das Recht, auch etwas zu erhalten." Unchristlicher geht es eigentlich nicht. Doch genau diese Galtung prägt ganz speziell das heutige, von Christen geprägte, Amerika

Bibel. 100 Seiten ist ein überaus lehrreiches Werk, das allerdings nicht einlöst, was ich mir versprochen bzw. erhofft hatte: Klarheit über die Entstehung, die Gliederung, die wesentlichsten Aussagen der Bibel.  Stattdessen macht es unter vielem Anderen (die Propheten. die Gottesknechte, Adam und Eva etc.) auf den Verlust der religiösen Sprache aufmerksam. Wörter wie Trost sind heutzutage kaum mehr in Gebrauch. "Mitleid, Barmherzigkeit oder Vergebung zu erfahren gilt als demütigend, und ein 'barmherziger Mensch' kommt in unserer Alltagssprache praktisch nicht mehr vor." Oder man nehme das Wort "Gnade". Die Weisheit "Gnade vor Recht ergehen" ist dem sogenannten Rechtsstaat, in dem das Recht des Stärkeren dem Recht des Schlaueren weichen musste, nachgerade wesensfremd. Ob Barmherzigkeit als ausschliesslich herablassend aufgefasst werden muss, wie das die Autorin tut, bezweifle ich allerdings. Für mich ist es schlicht ein anderes Wort für Empathie. 

Johanna Haberer begreift Christsein als "stets den eigenen Standpunkt reflektieren, beweglich, informiert und (selbst)kritisch zu bleiben." Auf-dem-Weg-Sein. Die jüdisch-christliche Religion und Kultur ist nomadisch geprägt. "Bis heute leben die Beduinen, Nachfahren jener nomadischen Völker des alten Israel, in Wellblechhütten an den Grenzen der Städte und Dörfer und weigern sich, feste Siedlungen zu bauen. Der Aufbruch als Lebensaufgabe ...". Es sind solche Erkenntnisse, die mich sowohl die Bibel als auch das Christentum anders und neu sehen lässt.

Johanna Haberer
Bibel. 100 Seiten
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 25 May 2025

Dan Yack

Beim Einstieg in diesen Roman wähnt man sich in einem Film, so bildmächtig weiss Blaise Cendrars die turbulente Szenerie zu schildern. Und dann die Sprache (grosses Kompliment an den Übersetzer Jürgen Schroeder!), die einen geradezu mitreisst und die Welt immer mal wieder neu sehen lässt. ("Die Wolken eilen herzu ...").

Dan Yack, ein berühmter Millionär und Lebemann, wird von seiner Geliebten Hedwiga verlassen, und entschliesst sich zu einem Neuanfang, "irgendwo zwischen der Ferse Neuseelands und dem Südpol." Nicht alleine, sondern zusammen mit einem Dichter, einem Bildhauer und einem Musiker, die er in einer Kneipe aufgegabelt und mit viel Geld geködert hat.

Der Kapitän ist gereizt, das Schiff kämpft gegen heftige Winde. Dann geht der erste Blitz über der Insel nieder. Ein Blizzard. Ein Schneesturm. Der Winter. Blaise Cendrars schildert das überaus eindrücklich, kraftvoll, mit grosser Intensität. Ihm muss, so stelle ich mir vor, ein vulkanisches Temperament eigen gewesen sein!

Der Dichter ist dick geworden, er grübelt, wird gepackt von einer Störung, die ihn ständig Rückblenden in die Vergangenheit provozieren lässt. Zwanghaft. Es ist schwer, dagegen anzukämpfen. Es ist ein Phänomen, das in langen Polarnächten häufig vorkommt und einen Bakteriologen genauso befallen kann wie einen Seemann.

Der Bildhauer verliert sich "in eine verworrene Träumerei von Zukunft, Menschenliebe und Lebensfreude." Und er studiert Dan Yack, mit der Folge, dass er unbewusst dessen Einfluss erlieg und sich, wenn er ausgeht, mit grösster Sorgfalt kleidet.

Die Perspektive von Bari, dem Hund, ist noch einmal eine andere. Er ist traurig, die Überfahrt war ein Alptraum, er träumt von den Verhältnissen in England. Dann findet er raus, dass der Musiker nach Hündin riecht. Der Dichter meint: "Ich persönlich bin überzeugt, dass der Hund ein Vermittler ist zwischen den anderen Tieren und den Menschen, eine Art niederer Engel, wie es die höheren Engel gibt, die Vermittler zwischen den Menschen und Gott, aufmerksame Wächter des Gebets, die Paradieshunde."

Und Dan Yack, wie geht es ihm? Zu den drei Nöten, die ihn beschäftigen, gehört auch die Angst um sein Monokel. Doch er muss auch lachen über die verrückte Gegend, wo im Sommer Winter ist und an Weihnachten die grösste Hitze herrscht. Als sie schliesslich in Port Deception landen und er die vollkommen öde Insel erkundet, muss er ständig an Hedwiga denken, die er einfach nicht aus Kopf und Herz bringt.

Mit Hilfe von fähigen Leuten baut er eine Fabrik auf, sendet Flotten aus zum Walfang, und macht sich an die Herstellung von Walfleischkonserven. Ein Kasino kam hinzu, er verdiente Geld,, und er hatte wieder angefangen zu lieben. Und: "Er trank. Er trank. Mochte alles zum Teufel gehen!"

Soviel zum ersten Buch, Le Plan de l'Aiguille, das zweite heisst Die Bekenntnisse Dan Yacks, das sich durch dieselbe Intensität auszeichnet. Dan Yack, der früher Grammophone liebte, lebt jetzt in Le Plan de l'Aiguille, und ist besessen vom Diktaphon, in das dieses zweite Buch gesprochen wurde. Der Text handelt hauptsächlich von Mireille, seiner Tochter, die tot ist. "Sie gab nicht gern Geld aus. Im Unterschied zu mir, der ich ihr Autos und Kleider kaufte und immer den neusten Schmuck. Aber sie mochte keinen Schmuck, sie mochte nichts als Blumen, wie meine Mutter." Können wir unserem Schicksal eigentlich entkommen?

Rückblicke auf der Ersten Weltkrieg ("Auch an der Front folgte ich meinem Instinkt, wenn ich die ganze Nacht durch diesen Wahnsinn irrte. Bizarre Kakophonie! Ich hörte den Tod delirieren. Eine anonyme Maschinerien,") wechseln sich ab mit dem Leben in Paris. "Was soll ich in Paris? Nicht mehr trinken, keine Frauen mehr, nein, kein Alkohol." Ob es ihm gelingen wird?

Wie das erste, so handelt auch das zweite Buch von Liebe, und Leid. Dan Yack ersäuft seinen Schmerz und wirft sich gleichzeitig in die Arbeit. Dabei geht es überaus turbulent zu und her; der Autor sprüht vor Fantasie und Sprachlust – und es sind diese, die diesen Roman ausmachen.

Blaise Cendrars
Dan Yack
Roman
Atlantis, Zürich 2025

Wednesday, 21 May 2025

1000 Sprachen - 1000 Welten

Zu den Fragen, die auch ausserhalb der Linguistik grosse Aufmerksamkeit geniessen, gehört, ob die Eskimos, wie einst in der New York Times behauptet wurde, wirklich über 70 Wörter für Schnee verfügten. Tun sie nicht, das ist widerlegt, was viele natürlich nicht hindert, diese Mär auch weiterhin zu verbreiten, denn, so der Linguist Geoff Pullum, wenn der Mensch sich einmal entschieden hat, etwas plausibel zu finden, ist er nur schwer wieder davon abzubringen. Was bei dieser Debatte jedoch übersehen wurde, meint Caleb Everett: "Sprachen spiegeln in der Regel die Umgebung wider, in der sie sich entwickeln."

Dieses Buch "soll einige besonders interessante Forschungsschwerpunkte von Psychologen, Linguisten, Anthropologen und anderen Forschern vorstellen, die unser Verständnis der menschlichen Sprache und des damit zusammenhängenden Denkens und Verhaltens formen." Caleb Everett tritt damit in die Fussstapfen seines Vaters, Daniel Everett, der aufgrund seiner Forschungen im brasilianischen Amazonasgebiet zur Auffassung kam, dass auch unser kultureller Lebensstil sich auf unser Denken auswirkt.

Vorauszuschicken ist dies: In der Linguistik gibt es die Anhänger/Vertreter sprachlicher Universalien, was meint, dass alle Sprachen der Welt grundlegende Merkmale teilen. Und dann gibt es die Relativisten, die davon ausgehen, dass die Sprache, die wir sprechen, unser Denken und unsere Wahrnehmung prägt. Ich selber tendiere zu den Universalien, Caleb Everett zum Sprachrelativismus. Doch wie so viele Rätsel, die wir mittels (erfundener) Fachdisziplinen zu beantworten suchen, liegen die Antworten, die wir finden (wollen), vermutlich in unserer Grundeinstellung: Die eher Schicksalsgläubigen werden vermutlich zum Universalismus neigen, diejenigen, die glauben, es liege an ihnen bzw. in ihrer Verantwortung/Macht, wie sie leben wollen, ziehen womöglich den Relativismus vor.

Wer davon ausgeht, dass die Menschen weltweit sich nicht wesentlich unterscheiden (sollen), wird den Universalien den Vorzug geben, wer eher an die Unterschiede glaubt, wird diese Unterschiede auch finden. 1000 Sprachen - 1000 Welten ist überaus reich an Beispielen ferner Populationen, die andere Vorstellungen vom Leben haben als der in Städten ansässige, moderne Mensch. Das ist interessant und anregend, doch ist es auch relevant bzw. macht es einen Unterschied in unserem Leben? Sicher, falls wir offen dafür sind, denn die Dinge neu bzw. anders zu sehen (das ist es, was die verschiedenen Sprachen uns zeigen), verändert die Perspektive und möglicherweise auch das Verhalten.

Da wäre einmal die Zeit, von der Caleb Everett ausgeht, dass es sie gibt. Die Rosebud Sioux in Süddakota glauben das nicht, dafür glauben sie an Geister. Doch dies nur am Rande. Verschiedene Völker drücken die Zeit verschieden aus, so Everett, aber erfahren sie sie auch anders? "Das soll nicht heissen, dass es keine universellen Komponenten in der Art und Weise gibt, wie Menschen Zeit erleben. Wir alle sind Homo sapiens mit Biorhythmen und der Fähigkeit, zeitliche Abläufe und natürliche Zyklen wie Tag und Nacht wahrzunehmen. Dennoch kann man immer klarer auf die sehr unterschiedlichen Arten und Weisen hinweisen, in denen Menschen Zeit begrifflich fassen und beschreiben." 

Und dann wäre da das räumliche Denken, von dem die Forscher zumeist annehmen, es sei "von Natur aus egozentrisch und anthropomorph geprägt" und erlaube uns deshalb, den Raum zu begreifen. Feldforscher kamen aufgrund von Studien, die mit indigenen Gruppen durchgeführt wurden, zum Schluss, dass  die Sprache "einen Einfluss auf das hat, was wir früher als tief verwurzelte, universelle Facetten der menschlichen Raumwahrnehmung betrachteten. Diese Behauptung ist nach wie vor umstritten, obwohl selbst Skeptiker inzwischen allgemein anerkennen, dass die Sprache eine gewisse Rolle bei der Gestaltung der räumlichen Standardstrategien der Menschen spielt."

Kennzeichnend für dieses Buch ist unter anderem, dass es vor eindeutigen Aussagen zurückschreckt. Das ist typisch für Akademiker, die sich damit vorbeugend gegen etwaige Einwände wappnen. "... haben wir einige indirekte Möglichkeiten gesehen, wie Umweltfaktoren möglicherweise die Sprache beeinflussen können." Auch zeigen die ehrerbietigen Zuschreibungen wie "Harvard-Anthropologe" oder "Harvard-Linguist" ein von Eitelkeit geprägtes Hierarchie-Denken, das ich zwar peinlich, doch auch aufschlussreich finde. 

Ganz besonders interessant ist das Kapitel "Wie wir Sätze wirklich konstruieren", worin der Autor unter anderem darauf hinweist, wie wesentlich das Verständnis von Redewendungen für das Erlernen einer Sprache ist. So ist etwa "Meinem Sohn gingen die Pferde durch" nur verständlich, wenn man die Bedeutung dieser Aussage kennt, da einfach die Worte zu übersetzen keinen Sinn ergibt. Gleiches gilt für "Ich stehe auf Sushi". Oder "Für etwas geradestehen."

1000 Sprachen - 1000 Welten vermittelt grundlegendes linguistisches Wissen. Das geht von "Einer der zentralen Grundsätze der modernen Linguistik ist, dass Sprache überwiegend willkürlich ist." zu "Tatsächlich bleibt die Frage in den Sprachwissenschaften weiterhin ein Rätsel, wie Kinder angesichts der Komplexität der Aufgabe überhaupt Sprache erwerben". Die Zusammenstellung neuerer Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgenommen wird, liefert Hinweise auf Zusammenhänge, die nicht nur faszinieren, sondern auch überraschen.

Caleb Everett
1000 Sprachen - 1000 Welten
Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt
Westend, Neu-Isenburg 2025

Sunday, 18 May 2025

Buildings for People and Plants


It is rare, very rare, that when glancing through a tome with pictures of architecture that I feel entranced by what my eyes are showing me. And, while this quite often happens when looking at images of nature, it is seldom the case when looking at man-made stuff. Needless to say, it is not only the architecture that fascinates me, it is also the presentation, the photographs, that is, that show me what the photographer has decided to frame, and thus to make me look at.

"We try to maintain a childlike sense of wonder, both in our design process and our finished projects.", I read in the introduction, and this sense of wonder can be also experienced when looking at these pics that were taken (for seven of the ten projects in the book) by Bruce Damonte. Another photographer that needs to be mentioned is Miguel de Guzmán. We do not look simply at truly fascinating architecture, we look at it through the eyes of these gifted photographers.

Transforming parking into a social experience with a vertical 
 stack of public spaces, including a gallery, play area, garden, 
and more © Imagen Subliminal

The essay Civics Lessons for an Uncertain Age by Nicolai Ouroussoff lets the reader/the viewer know that "under the colorful packaging, these projects are informed by a stubborn determination to reengage what is left of the public sphere." Not only a laudable but also a necessary endeavour. "Over time, as the architects became more established and the budgets got bigger, the geometries got more complex. Yet the interest in how public buildings can serve as places of common ground remains."

Come to think of it, it is pretty obvious that buildings do not stand alone. After all, everything is somehow connected. We all influence each other in ways we are hardly aware of. To emphasise the already exisiting connections and to establish new ones is the goal of the architects of WORKac. Contemplating what they have created gave me feelings of joy and lightness.

A vibrant hub for student life and a new campus entry © Bruce Damonte

There's also a conversation between Amale Andraos and Dan Wood, both cofounders of WORKac, and Heidi Zuckerman, "a globally recognized leader of contemporary art" (what would Americans do without superlatives, I wonder?), that is introduced by Zuckerman asking: "How does art inspire your practice and why do you think it matters?" I must admit that the answers by the architects I did not find very inspiring ("One learns to value life through art."), which isn't too surprising since, as one of the two points out, architects (bound by various constraints) and artists (very few constraints) work in very different way.

What I liked best about this conversation is Heidi Zuckerman's remark: "the more you look, the more you see.", that describes precisely my experience with this impressive tome that documents beautifully what the WORKac architects see as their mission: "We don't think of buildings as isolated objects, Rather, we enlist their power to frame, reexamine and reinvent relationships – between citizens and cities, public and private space, the individual and the collective, inside and outside, and people and plants."

An aesthetic pleasure of the first order!

WORKac
Buildings for People and Plants
Park Books, Zurich 2025

Wednesday, 14 May 2025

Peanuts. 100 Seiten

Ich bin Peanuts-Fan, habe mir während Jahren immer mal wieder einen dieser Comicstrips aus der Zeitung ausgeschnitten. Einige sind mir geblieben, kann ich frei zitieren (und tue es auch gelegentlich). Dazu kommt: Als ich vor Jahren angefangen habe, Portugiesisch zu lernen, haben mir die Peanuts-Comics dabei geholfen.

Wahrgenommen habe ich die Peanuts immer als lustig und streetwise, ernsthaft auseinandergesetzt habe ich mich nicht mit ihnen. Als ich jetzt auf dieses Zitat des Peanuts-Schöpfers Charles M. Schulz stosse: "Das grundlegende Thema der Peanuts war von Anfang an die Grausamkeit, die unter Kindern existiert." bin ich verblüfft und überrascht. Und werde ausgesprochen neugierig auf das, was Joachim Kalka, der Autor dieses Büchleins, noch alles auf Lager hat.

    Zu Snoopy notiert er: "Das Interessante an diesem Comic-Hund ist es, mit welcher Konsequenz er sich weigert, die klassische Rolle des Hundes zu erfüllen: die des Begleiters." Und Lucy, deren psychiatrische Praxis dazu dient, Charlie Brown auf seine Fehler aufmerksam zu machen, und findet, dass die  Psychiatrie eine exakte Wissenschaft ist, antwortet auf Charlie Browns "Eine exakte Wissenschaft?!, mit "Ja, du schuldest mir exakt einhundertdreiundvierzig Dollar!"

Joachim Kalka erläutert, ordnet ein und versteht klarzumachen, einleuchtend und nachvollziehbar, weshalb Charles M. Schulz macht, was er macht. Der Akzent liegt dabei auf: Wie mache ich es, dass ein Comicstrip gut funktioniert. Das ist auch Kalkas Domäne und so ist wenig erstaunlich, dass ich selber manchmal zu ganz anderen Schlüssen komme. Ein Beispiel: Linus ist abhängig von seiner Schmusedecke und will sie sich abgewöhnen. Als ihm das schlussendlich gelingt und er überglücklich ist, von seiner Sucht geheilt zu sein, gibt ihm Charlie Brown eine neue Decke. Kalka kommentiert: "Der Strip kann eben auf so ein zentrales Strukturelement nicht verzichten." Ich selber finde, dies zeige noch etwas ganz anders, nämlich, dass man von einer Sucht nicht so schnell loskommt. 

Wunderbar, worauf Joachim Kalka alles aufmerksam macht. "Snoopy beschliesst, Krieg und Frieden zu lesen: Jeden Tag ein einziges Wort."  Zu Snoopys Tagräumen gehört auch, dass er sich als Schriftsteller sieht. "Während ein Hemmnis für Snoopys Romanproduktion in seiner Einfallslosigkeit liegt, ist sein anderes das beschränkte Wissen." Das sind in der Tat nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein Schriftstellerleben!

Ganz besonders beeindruckt hat mich Kalkas Herausschälen von Grundlegendem. Einerseits, weil es mir Augenöffner angetan haben, andererseits, weil mir damit eine Perspektive eröffnet wird, die ich als bereichernd erlebe. So ist etwa Snoopy ständig mit Selbstinszenierungen beschäftigt, beschränkt sich Charles M. Schulz auf einige wenige Topoi, und lässt sich von den Jahreszeiten leiten. Keine Frage, das wird vermutlich den meisten auffallen, die sich mit den Peanuts auseinandersetzen, doch wer tut das schon und dann noch mit einem so guten Auge wie Joachim Kalka?

Ständig ist der Fernseher an; Lucy ist aggressiv, Charlie Brown ist es nicht. In seiner Unbeholfenheit, seinem ständigen Scheitern, zeigt sich auch, dass die Welt der Kinder oft das genaue Gegenteil einer Idylle ist. "Es ist gewiss die mit grosser Subtilität inszenierte Kinderperspektive, die den Strip so faszinierend macht: eine Welt von Wesen, welche in den Begrenzungen der Kindheit gefangen sind und sie gleichzeitig überwinden oder ignorieren."

Joachim Kalkas Blick auf die Peanuts lässt sie mich ungewohnt und neu sehen. Bravo!

Joachim Kalka
Peanuts. 100 Seiten
Reclam, Ditzingen 2025