Ich hätte letzthin ein Buch über einen übergelaufenen sowjetischen Spion gelesen und sei seither der Meinung, es wimmle vermutlich von Schläfern in der Schweiz. Ja, Bern schläft, sagt daraufhin die pensionierte Schweizerin am Bahnhof von Genua, die mit mir auf den verspäteten Zug nach Alássio wartet und stolz auf ihr Italienisch ist. Bern schläft, sagt sie noch einmal.
Mein
Hotel liegt direkt am Meer. Als ich eintreffe erläutert die
Rezeptionistin am Telefon einem offenbar begriffsstutzigen
Motorradfahrer, wie er die Parkgarage finden könne. Als ich sie
später frage, ob der Mann eingetroffen sei, sagte sie, er schon, das
Motorrad nicht.
Beim
Frühstück wähne ich mich in einem Fellini-Film. Einige haben
Tische reserviert, nicht nur am Fenster, auch vor einer Säule. Als
mir eine ältere Frau zulächelt, geht mir mein brasilianischer
Freund Ricardo durch den Kopf, der vor Jahren meinen geplanten Besuch
in Torres, einer Stadt am Strand in Rio Grande do Sul, so
kommentierte: Da wirst du viele schöne junge Frauen im Bikini zu
sehen kriegen, die dich jedoch keines Blickes würdigen. Die
einzigen, die dich anschauen, sehen so aus wie deine Grossmutter,
sind aber wahrscheinlich jünger als du.
Alássio,
Einwohnerzahl um die 10’000, ist eine Touristenhochburg. Anfang
September vor allem für ältere Semester. Ich staune über die
günstigen Cappuccino-Preise: 1 Euro 70 oder 1 Euro 80.
Eine
Buchanzeige per Email. Ob mich eine Analyse darüber, wie wir über
die Covid-Impfung getäuscht wurden, geschrieben von einer
Rechtsanwältin, zu besprechen interessiere? Definitiv nicht. Ich
finde sogenannte Aufarbeitungen wohlfeil. Was sie bewirken sollen,
ist mir schleierhaft, denn dass der Mensch aus der Geschichte nichts
lernt, ist nun wirklich nichts Neues.
Meine
derzeitige Lektüre: Robertson Davies‚ The
Lyre of Orpheus, reich
an so wunderbaren Sätzen wie: „Maria thought of herself as a
determined scholar, not as a rich man’s wife, or a woman of
remarkable beauty which drew all sorts of unscholarly things into her
path.“ Sowie eine Geschichte der Hitze, die mich zum ersten Mal den
zweiten Satz der Thermodynamik begreifen lässt: Hitze fliesst immer
von heiss zu kalt. Nie umgekehrt.
Ortsansässige
empfehlen regelmässig den Besuch von Touristenattraktionen. Mich
interessieren weder Museen noch historische Stätten und ich wundere
mich, dass man sich dafür interessieren kann. Ich muss nicht wissen,
was meine Vorfahren angeblich gedacht und gefühlt haben. Als ob das
jemand wüsste! Ich weiss nicht einmal, was ich selber denke, habe
eher den Eindruck, dass in mir etwas denkt, wovon ich nur zu einem
ganz geringen Teil etwas mitkriege.
Es
sei klar besser, sagt mir die Rezeptionistin, direkt beim Hotel und
nicht via Booking zu buchen. Und wieso das? Weil man dann immer über
den Preis verhandeln könne. Ich habe alles bezahlt, ausser der
Kurtaxe, sage ich zwei Tage später beim Check-out. Due Euro,
winkt sie ab.
35
Minuten Verspätung habe mein Zug nach Ventimiglia, informiert mich
Trenitalia per Email. Am Bahnhof sagt die Anzeigetafel dann die
Verspätung betrage 60 Minuten. Als ich zwanzig Minuten später noch
einmal hinschaue, ist keine Verspätung mehr aufgeführt. Ich gehe
zum Gleis, wo gerade ein anderer, ebenfalls verspäteter Zug nach
Ventimiglia einfährt, allerdings kein Intercity, für den meine
Fahrkarte gültig ist. Ob ich auch diesen Zug nehmen könne, frage
ich einen Bahnangestellten, der meint, vermutlich schon, er würde es
jedenfalls empfehlen, denn der Intercity habe eine Stunde Verspätung.
Ich beschliesse, es zu riskieren, werde dann gar nicht kontrolliert,
doch leider setzt sich eine Frau mit zwei Kindern neben mich, die
einen derartigen Lärm machen, dass ich meine Stimme erhebe und ohne
nachzudenken diesen ziemlich bescheuerten Satz von mir gebe. „Nella
prima classe il silenzio é obligatorioI“ Dann ist Ruhe. Als der
Lärmhaufen in Sanremo aussteigt, verabschiedet sich das Mädchen mit
einem lachenden Ciao.
Als
ich in Cannes meine Email konsultiere, erfahre ich von Trenitalia,
dass mein verspäteter Intercity in Arquata Scrivia zu einem
definitiven Stillstand gekommen und ich autorisiert sei, den
Regionalzug zu nehmen.
Die
Unterschiedlichkeit der Leute macht mich immer mal wieder staunen. Im
Zug: Die zwei Araberinnen, die sich offenbar nur sehr, sehr laut
unterhalten können. Die Afrikanerin in buntes Tuch gehüllt, die
mich über den Gang hinweg bittet (und nicht etwa die, welche neben
ihr sitzen) kurz auf ihr Gepäck aufzupassen. Die junge Frau, die mir
zu Hilfe eilt, als mein Koffer umfällt. Ob ich wohl so alt aussehe,
dass ich Hilfe brauche?
Eigenartig,
in einem Hotel zu sein, wo ich ausschliesslich die Landessprache
höre. Jetzt in Toulon ist es so, doch auch in Alássio ist mir das
aufgefallen.
Am
Hafen von Toulon, einer Stadt mit 160’000 Einwohnern, geht mir
Schopenhauer durch den Kopf, der beim Anblick der Galeerensklaven
zutiefst erschüttert war und den Glauben an die Menschheit verlor.
In der Innenstadt dann Erinnerungen an Dijon.
Nach
dem ausgiebigen Hotelfrühstück habe ich zwar keinen Hunger, doch
dem Thai-Restaurant beim Bahnhof kann ich dann doch nicht
widerstehen. Ein Fehler, die Hühnersuppe schmeckte, als ob man
anstatt eines Kaffeelöffels Bouillon (oder was auch immer es gewesen
ist) zwei Kochlöffel davon reingeschmissen hätte. Ich brachte es
nicht über mich, aufzuessen.
Cappuccino
in Frankreich ist meist eine Enttäuschung, Café au lait oft die
bessere Option. Mit einer Ausnahme: In einer Bar Tabac war er
exzellent, für zwei Euro!
Heftiger
Wind, der mich zeitweilig an Rio Grande gemahnt, wo ich mich
wunderte, dass jemand damit leben kann. Gewohnheit, wie immer.
Nach
gut fünf Stunden der Stadterkundung, glaube ich es gesehen zu haben
und ziehe mich ins Hotel zurück, wo ich mir Jerzy Kosinkis L’oiseau
barriolé vornehme
und unter anderem lerne, dass ein Drittel der im Zweiten Weltkrieg
ermordeten Juden weniger als 16 Jahre alt war. Kosinski, von dem
meine verstorbene Freundin Irène schwärmte, habe ich einst
verschlungen … und auch jetzt packt er mich.
Eine
Literatursendung im Fernsehen. Sehr französisch, intelligentes
Palaver von Leuten, die alles für bedeutsam halten, vor allem sich
selber. Früher mochte ich das nicht nur, ich war beeindruckt, und
nahm es ernst, im Gegensatz zur Politik, die ich immer schon hohl
gefunden habe. Heute sehe ich nur noch Eitelkeit und
Selbstüberschätzung.
Schon
komisch, was ich in̈ Hotelzimmern so alles google, von Heather Mills
bis zu Olivia Newton-John, die in Australien offenbar ein
Staatsbegräbnis gekriegt hat. Was wir Menschen alles für normal
halten – Staatsbegräbnisse! –zeigt wie durchgeknallt wir sind.
Im
Internet lese ich, eine Schweizer Politikern habe auf Instagram ein
Bild von sich gepostet, das zeigt wie sie auf ein Bild von Maria mit
Jesuskind schiesst, worauf sie ihren Job als Kommunikationsberaterin
(!?) sowie politische Ämter verliert. Wie konnte sie nur, was hat
sie sich bloss gedacht? wird nun gefragt. Diesen Fragen liegt die
Annahme zugrunde, wir wüssten, was wir tun. Das ist Humbug. Wir
haben keinen Schimmer, warum wir tun, was wir tun. Was wir bewusst
äussern ist Theater bzw. klassische Dissonanz-Reduktion. Wir sind
viel zu komplex, um uns selber zu verstehen. Das Unbewusste regiert
uns. Was uns wirklich antreibt, wie wir wirklich denken, zeigt sich
allein in unserem Tun.