"Braucht es nicht ein bisschen mehr als nur Haltung?", fragt der Verlag. Nein, damit ist nicht das Buch gemeint, obwohl die Frage darauf genauso zutrifft wie auf die Linksliberalen, die dem Autor derart auf die Nerven gehen, dass er viel Fleiss und Energie aufgewendet hat, um seine Abneigung zu rationalisieren. Vieles, was er anführt, ist bestens nachvollziehbar, auch für jemanden wie mich, dem die Empörung über politische Arroganz und Abgehobenheit im Laufe der Jahre fremd geworden ist; ich begreife sie als systemimmanent.
Klaus-Dieter Rieveler ist durchaus klar, dass nicht allein die Grünen heuchlerisch unterwegs sind, doch die eben ganz besonders. "Wer sich selbst bei jeder Gelegenheit als Moralapostel aufspielt, muss sich an seinen eigenen Massstäben messen lassen." Unter diesem Motto operiert Hauptsache Haltung. Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten. "Neben ihrer unerschütterlichen Überzeugung, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, haben die Linksliberalen noch zwei Alleinstellungsmerkmale: zum einem das manichäische Denken in Opfer- und Tätergruppen, zum anderen, die Überzeugung, mit den Mitteln der Sprache die Welt verändern zu können."
Nun ja, ob man mit den Mitteln der Sprache die Welt verändern kann, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen, sondern wird von Linguisten schon lange kontrovers diskutiert, und die Vorstellung im Besitz spezieller Weisheit zu sein, findet man in der uns bekannten Welt breit vertreten, auf allen Gesellschaftsebenen. Beide Phänomene deuten auf eine Überschätzung der eigenen Bedeutung hin. Dem Universum sind unsere Überzeugungen und Einsichten übrigens völlig egal.
"An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen" ist ein Kapitel überschrieben. So sehr das auch zutrifft, fällt es eben auch auf den Autor zurück, der sich einer plakativen Sprache bedient (nein, nicht durchgehend, aber immer mal wieder), die für diejenigen, denen die sachliche Auseinandersetzung wichtig ist, etwas gewöhnungsbedürftig ist. Andererseits: Dass er die taz, die Süddeutsche, die Zeit und den Spiegel als linksliberale Blätter bezeichnet, in denen sich der sogenannte Selfie- oder Nabelschau-Journalismus grosser Beliebtheit erfreue ("Hier zählt einzig die persönliche subjektive Sichtweise."), ist allerdings derart abstrus, dass man es gar nicht kommentieren mag. Zudem: Wie rechts muss man eigentlich sein, um diese Blätter als linksliberal wahrzunehmen?
"Was ist das, politische Korrektheit? Eine Allergie dagegen, Dinge beim Namen zu nennen ...", wird Pascal Bruckner zitiert. Und natürlich stimmt das. Die vielen Belege in Sachen Cancel Culture, die Klaus-Dieter Rieveler anführt, bezeugen eine Verblendung, die ich bis vor einigen Jahren noch nicht für möglich gehalten habe. Die Authentizitäts-Fans sollten sich den Florida-Golfer und verbalen Capitol-Sturm-Anstifter anschauen, der ist authentisch. Und hat übrigens auch ganz viel gemein mit Aktivisten und Aktivistinnen: Von nichts eine Ahnung, dafür zu allem eine Meinung.
Hauptsache Haltung. Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten ist grösstenteils eine aufschlussreiche Geschichtsstunde. Kein Wunder, hat doch der Autor Geschichte, Soziologie und Journalistik studiert, weshalb er denn auch Ignoranz in Sachen Geschichte besonders schlecht erträgt. Die Beispiele, die er heranzieht, sprechen in der Tat für sich. Schmunzelnd nahm ich auch zur Kenntnis, dass die Grünen offenbar mit der Mathematik auf Kriegsfuss stehen. Nun ja, abgesehen von den Mathelehrern geht es wohl den meisten so.
"Ein fettes Bankkonto und eine sichere Anstellung helfen unemein dabei, von den negativen Begleiterscheinungen linksliberaler Politik nichts mitzubekommen." Das ist zwar bei rechter Politik auch nicht anders, doch da der Feind des Herrn Rieveler die Linksliberalen sind ... Das ist wenig erhellend, bestätigt nur das gängige System, das ohne die Guten/die Bösen nicht auszukommen scheint, und angesichts der technischen Entwicklungen, vom Internet zur KI, offensichtlich nicht mehr allzu viel taugt.
Dass der Autor Entweder/Oder unterwegs ist, zeigt sich auch am Beispiel der Publizistin Carolin Emcke, die dazu aufrief, "nicht an Gesprächsrunden 'in einer Rahmung, die Pro und Kontra heisst'", teilzunehmen: "Wir müssen aufhören, diese Rahmung zu bedienen. Es wird uns beständig vorgemacht, es gebe zu allen Fragen gleichermassen wertige, gleichermassen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist, mit Verlaub, einfach Bullshit. Wir müssen es abschaffen." Klaus-Dieter Rieveler kommentiert: "Vernünftig diskutieren lässt sich also gemäss Emckes Auffassung also nur, wenn alle einer Meinung sind, zumindest was die Grundüberzeugungen der Moralelite betrifft." Nur eben: Carolin Emcke sagt etwas ganz anderes: Die Vorstellung, wir seien alle zu einem vernünftigen Austausch fähig bzw. daran interessiert, ist falsch. Und selbstverständlich hat sie Recht. Hinzufügen wäre noch: Man soll nicht allen die gleichen Möglichkeiten zur Selbstdarstellung geben, man denke an all die uninformierten Hohlköpfe und Psychopathen, denen die Medien heutzutage eine Plattform bieten.
Die Fülle der Informationen, die der Autor vorlegt, ist beeindruckend; die vielen konreten Beispiel machen deutlich, dass das Selbstverständnis von "Aktivisten" (dass das eine Berufsbezeichnung sein kann, ist mehr als sonderbar) wohl am ehesten in persönlichen Kränkungen gründet. Ob die Ideen dieser Leute es verdienen, derart ernst genommen zu werden, wie es in diesem Buch der Fall ist, bezweifle ich. Andererseits ist es aber eben auch so (und das macht dieses Buch klar), dass es überhaupt nicht angeht, sich von selbsternannten Idealisten sagen zu lassen, wie wir denken und reden sollen.
Klaus-Dieter Rieveler ist ausgesprochen polemisch unterwegs (Was soll das bloss sein, eine Moralelite? Kann man sich etwa selber, so man denn wollte, zur Elite ernennen? Dass es in der heutigen politischen Welt an Moral fehlt, halte ich übrigens für ein Problem) und obwohl er kenntnis- und detailreich argumentiert, ist er so recht eigentlich ein Ideologe, der gegen alles schiesst, was er unter linksliberal subsumiert. Oder mit seinen eigenen Worten: Ein kleinkarierter Besserwisser im Strebergarten. Wie heisst es doch so treffend im Talmud: Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.
Neben der persönlichen Ebene, die der Autor kräftig bedient (gemäss seiner eigenen Logik muss er sich also nicht wundern, wenn sie auf ihn zurückfällt), gibt es noch die sachliche Ebene, die sich durch eine eindrückliche Materialfülle auszeichnet und deren vielfältige Fallbeispiele für sich sprechen. Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen, ob der vielfältigen Absurditäten, die die Leute nicht nur von sich geben, sondern offenbar ernsthaft glauben."Wenn Jungs schon in der Grundschule gesagt wird", so die Spiegel-Autorin Tara-Louise Wittwer, "dass sie nicht weinen dürfen, weil starke Jungs eben nicht weinen, stauen sich die Emotionen oft jahrzehntelang an und explodieren dann. Ein bisschen so, wie bei einer Flasche Mineralwasser, extra spritzig, mit besonders viel Kohlensäure. Wenn man die ganz stark schüttelt und öffnet, weiss wirklich jeder was passiert." Und jetzt weiss auch wirklich jeder, dass Frau Wittwer nicht den leisesten Schimmer von Emotionen hat (Emotionen, die sich jahrzehntelang stauen? Wo genau? Gibt es da eine spezielle Ecke im Unbewussten?), sich jedoch mit Kohlensäure auskennt.
Wer ein eher beiläufiges Interesse an den in diesem Buch angesprochenen Themen hat, nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass diese komischen Aktivisten, zumeist humorlos, fanatisch und hauptsächlich für sich selbst unterwegs, wirklich ungeheuer aktiv sind und, angesichts ihrer doch eher kleinen Zahl, Erstaunliches bewirken, das in eine vollkommen falsche und gefährliche Richting läuft, da es einerseits noch grössere Verwirrung anrichtet als wir eh schon haben, und andererseits zur gesellschaftlichen Spaltung beiträgt. Darüber klärt Klaus-Dieter Rieveler auf; dieses Buch ist gleichzeitig Aufklärung und Warnung. Apropos Spaltung: Fragen sollte man sich allerdings auch, ob ein gelassenes Nebeneinander einem streitenden Miteinander nicht vorzuziehen wäre.
Klaus-Dieter Rieveler
Hauptsache Haltung
Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten
FiftyFifty Verlag, Köln 2025