Wednesday, 9 October 2013

Fotografie: Die ganze Geschichte

Gleich vorneweg: Dies ist ein aussergewöhnliches, in jeder Hinsicht überzeugendes Werk. Das fängt bereits bei der Einführung an, in der Juliet Hacking unter anderem auf die Aufnahmen von Herbert Ponting anlässlich der britischen Antarktisexpedition von 1910 bis 1913 hinweist und feststellt: "Selbst unter solchen lebensfeindlichen Bedingungen war Ponting nicht bereit auch nur eine Handbreit von seinen ästhetischen Vorstellungen abzuweichen. Dies macht deutlich, dass die Fotografie ebenso sehr aus der menschlichen Vorstellungskraft schöpft wie aus der Realität." Ein Satz von grosser Wahrheit, bei dem zu verweilen sich lohnt. Wie auch bei der Erkenntnis des ehemaligen Kurators der Fotografieabteilung des New Yorker MoMA, John Szarkowski (1925-2007), der der Auffassung war, "Fotografien entsprängen nicht der menschlichen Phantasie, sondern seien bildlich geordnete Fragmente von Wirklichkeit, dargestellt aus individueller Sicht."

Dass Fotografie: Die ganze Geschichte ein tolles Buch ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es unter anderem vorführt, wie Fotos gelesen/gesehen/interpretiert werden können und sollen. Mit anderen Worten: es ist auch eine Einführung in die Bilder-Lesekompetenz. Nehmen wir als Beispiel die drei Jungbauern von August Sander (1876-1964) aus dem Jahr 1914. Ein umfassendes Porträt der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft, habe Sander beabsichtigt, lese ich da. Und: "Die drei jungen Männer versinnbildlichen die starken ländlichen Wurzeln, von denen Deutschland trotz rascher Industrialisierung geprägt war. Ihre modernen Anzüge und die Zigaretten deuten allerdings auf Veränderungen hin, die die traditionelle Lebensweise bedrohen." Schade nur, dass man nicht erfährt, ob es der Wunsch des Fotografen oder der Jungbauern war, sich in diesen Anzügen zu zeigen.
August Sander: Jungbauern

Unter dem Stichwort "Blickpunkte" werden Bildausschnitte erläutert. Im Falle der Jungbauern zeigt einer dieser Ausschnitte das Gesicht in der Mitte des Bildes, das wie folgt kommentiert wird: "Im Anflug eines Grinsens auf dem Gesicht in der Mitte bemerkt man die faszinierenden Gegensätze in Sanders Projekt. Die Lässigkeit des jungen Mannes spricht von dem Wunsch die bäuerliche Welt hinter sich zu lassen. Sein argwöhnischer Blick signalisiert Ablehnung gegenüber dem dokumentarischen Blick der Kamera." Ein anderer Ausschnitt zeigt die Spazierstöcke, zu denen man liest: "Die Spazierstöcke verstärken die dandyhafte Erscheinung der jungen Männer, verankern sie jedoch auch in der Erde. Stöcke, Kleidung und die Ähnlichkeit ihrer Posen lassen die Konformität der ländlich-bürgerlichen Lebensweise durchblicken und die Individualität der Modelle zurücktreten."

Verweilend bei diesen und ähnlichen Zuschreibungen, habe ich mich immer mal wieder gefragt, ob der Fotograf (der, es versteht sich, auch immer eine Frau sein kann), sich die Gedanken und Überlegungen eigentlich gemacht hat, die ihm da angedichtet werden. Anders gefragt: Fotografiert der Fotograf wirklich so reflektiert, wie seine Interpreten meinen? Oder sind seine Aufnahmen vor allem intuitiv entstanden? Oder sind sie eine Mischung von Reflexion und Intuition? Wie auch immer: ich finde die Interpretationen in diesem Band äusserst anregend, auch wenn ich mir recht sicher bin, dass der Fotograf sich gelegentlich wundern wird, was andere in seine Bilder hineinlesen.

Was mich an diesem Buch ganz besonders fasziniert, sind die vielen prägnanten Sätze, die es schaffen, höchst Komplexes anschaulich auf den Punkt zu bringen. Etwa über die dokumentarische Fotografie: "Der Begriff der Wahrheit spielt in der Fotografie lediglich eine rhetorische Rolle. So überzeugend ein Bild auch daher kommen mag, so kommuniziert es doch lediglich eine Botschaft, die von einem gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und editorischen Kontext gestützt wird." Erhellend auch dieser Satz über Sebastião Salgado: "Salgado verwendet Schwarz-Weiss auf eine Weise, die der Kunstfotografie näher ist als dem Fotojournalismus."

Fotografie: Die ganze Geschichte ist ein höchst nützliches Werk. Ich will gerne gestehen, dass ich es mit einiger Skepsis (Die ganze Geschichte? Wirklich?) zur Hand genommen habe, denn ich mag die Bücher über Fotografie, mit denen ich mich beschäftigt habe, gar nicht mehr zählen und das heisst: ich rechnete nicht damit, überrascht zu werden  Doch ich hatte mich gründlich getäuscht, denn Fotografie: Die ganze Geschichte zeigte mir nicht nur ganz viele Bilder, die ich nicht kannte, sie informierte mich auch über ganz viele Aspekte der Fotografie (etwa: Fotografie und Tourismus, Performance und Partizipation, Topografien), denen ich bislang keine spezielle Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Fotografie: Die ganze Geschichte
Herausgegeben von Juliet Hacking
DuMont Buchverlag, Köln 2012

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