Tim Parks, geboren 1954 in Manchester, wuchs in London auf und lebt seit 1981 in Italien. Er schreibt viel und gut und manchmal frage ich mich, ob es auch Gedanken gibt, die seinen Kopf durchqueren, und die er nicht aufschreibt? Jedenfalls kommt mir vor, als ob ich so recht eigentlich nicht zur Website der New York Review of Books gehen kann, ohne dass ich da etwas von Tim Parks zu lesen kriege, und dann auch immer noch etwas anregend Schlaues, wie macht der Mann das bloss?
Um es gleich klar zu machen: ich weiss, dass ich dieses Buch mögen werde. Weil ich Parks' Schreiben sehr mag und ihm eine Italien-Einsicht verdanke, die mich seither begleitet. Sie geht in etwa so (ich zitiere aus dem Gedächtnis): Sich der Tatsache gewahr zu werden, dass es italienische Zeugen Jehovas gebe, verändere das eigene Italien-Bild schlagartig. Stimmt, doch nur für einen Moment, liest man dann nämlich Italien in vollen Zügen ist das alte Italien-Bild sofort wieder da
Mein Bild vom Italiener an und für sich ist von meinem Vater geprägt worden, der meinte, für einen Italiener sei ein Stopp-Zeichen bestenfalls eine gute Diskussionsgrundlage. In den Worten von Tim Parks: "Aber in Italien ist kein Gesetz wirklich wasserdicht, von konsequenter Durchsetzung ganz zu schweigen. Es existieren immer interessante Schlupflöcher."
Vor den bürokratischen Auswüchsen retten sich die Italiener oft in Schreien und Brüllen (jedenfalls in meinen Ohren), doch keinesfalls in ernsthaften Protest. Generalstreiks bedeuten einen freien Arbeitstag, sie werden in der Regel auf Freitag angekündigt.
Italien in vollen Zügen ist auch ein lehrreiches Buch. So lerne ich zum Beispiel, dass Fundbüro auf Italienisch oggetti smarritti heisst. Verlegte Gegenstände. Wobei smarritto auch erstaunt oder verwirrt bedeuten kann. Coincidenza ist ein anderes Wort, das ganz Unterschiedliches bedeuten kann. Bei Bahnreisen kann es Anschlussverbindung bedeuten, doch am häufigsten wird das Wort benutzt, "um eine plötzliche und völlig unerwartete Entwicklung der Dinge anzukündigen, die sofortiges Handeln erfordert." Ein Zug in partenza etwa, was meint, dass der Zug abfahrbereit ist, oft jedoch bereits abgefahren ist. Und da ist da noch ein Wort, das zu verstehen für Zugfahrten in Italien unabdingbar ist: soppresso, fällt aus.
Als Jugendlicher übten Bahnhöfe eine grosse Faszination auf mich aus, sie waren Sehnsuchtsorte, von wo man in die Ferne aufbrach. Das hat sich geändert, heute sind sie weltweit zu Einkaufszentren verkommen. Und zu Orten, an welchen Schlangestehen (kein italienisches Talent) vor den Schaltern angesagt ist. Aus Italien in vollen Zügen erfahre ich, dass am Milano Centrale die Afrikaner und Chinesen etwas verkaufen oder betteln und die osteuropäischen Immigranten beim Fahrkartenerwerb ihre Dienste anbieten (die Bedienung der Automaten ist eine Kunst). Und dass die Mailänder Barmänner keine Studenten, Aushilfen oder Möchtegern-Schauspieler sind, sondern wirklich wissen wie man Kaffee macht.
Das Schöne an Italien in vollen Zügen ist, dass es einerseits so ziemlich alle meine Voreingenommenheiten über Italiener bestätigt und sie gleichzeitig wieder aufhebt. "Das Faszinierende ist, dass ein und dieselbe Nation so gegensätzliche Stereotypen hervorbringt: den miesepetrigen, langsamen Bahnhofscafé-Kellner in dem schäbigen ungepflegten öffentlichen Lokal, wo alles schwierig und traurig ist, und den quicklebendigen Mann in dem quirligen Strassencafé, der doppelt so hart arbeitet, dabei aber fröhlich bleibt. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass derselbe Mann sein Verhalten komplett verändern würde, wenn er von dem einen Ambiente in das andere versetzt würde. Die Art seiner Bemerkungen, sein Kleidungsstil und vor allem die Qualität seines Cappuccino würden sich komplett wandeln."
Tim Parks
Italien in vollen Zügen
Verlag Antje Kunstmann München 2014
Um es gleich klar zu machen: ich weiss, dass ich dieses Buch mögen werde. Weil ich Parks' Schreiben sehr mag und ihm eine Italien-Einsicht verdanke, die mich seither begleitet. Sie geht in etwa so (ich zitiere aus dem Gedächtnis): Sich der Tatsache gewahr zu werden, dass es italienische Zeugen Jehovas gebe, verändere das eigene Italien-Bild schlagartig. Stimmt, doch nur für einen Moment, liest man dann nämlich Italien in vollen Zügen ist das alte Italien-Bild sofort wieder da
Mein Bild vom Italiener an und für sich ist von meinem Vater geprägt worden, der meinte, für einen Italiener sei ein Stopp-Zeichen bestenfalls eine gute Diskussionsgrundlage. In den Worten von Tim Parks: "Aber in Italien ist kein Gesetz wirklich wasserdicht, von konsequenter Durchsetzung ganz zu schweigen. Es existieren immer interessante Schlupflöcher."
Vor den bürokratischen Auswüchsen retten sich die Italiener oft in Schreien und Brüllen (jedenfalls in meinen Ohren), doch keinesfalls in ernsthaften Protest. Generalstreiks bedeuten einen freien Arbeitstag, sie werden in der Regel auf Freitag angekündigt.
Italien in vollen Zügen ist auch ein lehrreiches Buch. So lerne ich zum Beispiel, dass Fundbüro auf Italienisch oggetti smarritti heisst. Verlegte Gegenstände. Wobei smarritto auch erstaunt oder verwirrt bedeuten kann. Coincidenza ist ein anderes Wort, das ganz Unterschiedliches bedeuten kann. Bei Bahnreisen kann es Anschlussverbindung bedeuten, doch am häufigsten wird das Wort benutzt, "um eine plötzliche und völlig unerwartete Entwicklung der Dinge anzukündigen, die sofortiges Handeln erfordert." Ein Zug in partenza etwa, was meint, dass der Zug abfahrbereit ist, oft jedoch bereits abgefahren ist. Und da ist da noch ein Wort, das zu verstehen für Zugfahrten in Italien unabdingbar ist: soppresso, fällt aus.
Als Jugendlicher übten Bahnhöfe eine grosse Faszination auf mich aus, sie waren Sehnsuchtsorte, von wo man in die Ferne aufbrach. Das hat sich geändert, heute sind sie weltweit zu Einkaufszentren verkommen. Und zu Orten, an welchen Schlangestehen (kein italienisches Talent) vor den Schaltern angesagt ist. Aus Italien in vollen Zügen erfahre ich, dass am Milano Centrale die Afrikaner und Chinesen etwas verkaufen oder betteln und die osteuropäischen Immigranten beim Fahrkartenerwerb ihre Dienste anbieten (die Bedienung der Automaten ist eine Kunst). Und dass die Mailänder Barmänner keine Studenten, Aushilfen oder Möchtegern-Schauspieler sind, sondern wirklich wissen wie man Kaffee macht.
Das Schöne an Italien in vollen Zügen ist, dass es einerseits so ziemlich alle meine Voreingenommenheiten über Italiener bestätigt und sie gleichzeitig wieder aufhebt. "Das Faszinierende ist, dass ein und dieselbe Nation so gegensätzliche Stereotypen hervorbringt: den miesepetrigen, langsamen Bahnhofscafé-Kellner in dem schäbigen ungepflegten öffentlichen Lokal, wo alles schwierig und traurig ist, und den quicklebendigen Mann in dem quirligen Strassencafé, der doppelt so hart arbeitet, dabei aber fröhlich bleibt. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass derselbe Mann sein Verhalten komplett verändern würde, wenn er von dem einen Ambiente in das andere versetzt würde. Die Art seiner Bemerkungen, sein Kleidungsstil und vor allem die Qualität seines Cappuccino würden sich komplett wandeln."
Tim Parks
Italien in vollen Zügen
Verlag Antje Kunstmann München 2014
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