"Die italienische Migration dokumentiert sich selbst", lese ich auf der Website des Limmat Verlags. Was für eine tolle Idee! durchfährt es mich, Fotos von italienischen Gastarbeitern (wie sie damals genannt wurden) zu zeigen, die diese von sich selber und ihren Familien gemacht hatten. Kein Blick von aussen, sondern die Innenansicht, die ich mir natürlicher, unverkrampfter, direkter vorstelle. Doch ist sie es? Verstellen sich die Menschen nicht ganz automatisch, wenn sie wissen, dass sie fotografiert werden?
Grazie a voi. versammelt Fotografien von Familien und Einzelpersonen zusammen mit Aufnahmen von Fotografen, die an offiziellen Anlässen und Festen der italienischen Gemeinschaft aufgenommen worden sind. Gerade heute, wo man, trotz besseren Wissens, gelegentlich den Eindruck hat, Migration sei entweder etwas gänzlich Neues oder liege schon so weit zurück, dass sie höchstens für spezialisierte Historiker ein Thema sein könne, ist das ein besonders aktueller Band.
Zur Erinnerung: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Italien nicht für alle Arbeit. Nicht wenige versuchten, auch der höheren Löhne wegen, ihr Glück in der Schweiz. Auch warben Schweizer Firmen in Italien aktiv um Arbeitskräfte. Schon damals galt, was auch heute gilt: Die Menschen folgen dem Kapital.
Die Herausgeber haben die Bilder thematisch gegliedert: Arbeit, Familie, Bildung, Vereine usw. Ganz besonders angesprochen hat mich die Kategorie "Eleganz", wo auch dieser schöne Satz zu finden ist: "Dem Stigma des Fremden setzen sie Eleganz und Lässigkeit entgegen." Das Titelbild illustriert das bestens; die Legende dazu lautet: "Giuseppe bittet seine Cousine Pierina, ihm wieder einmal gutes italienisches Essen zuzubereiten, damit er den Gürtel nicht noch enger schnallen müsse." Se non è vero, è ben trovato.
Die Aufnahmen in diesem Band entstammen dem Zeitraum zwischen dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre und sind nicht nur ein eindrückliches Zeitdokument, sondern zeigen unter anderem auch auf, wie der junge politisch engagierte Gymnasiast Raniero Fratini, der seit dreissig Jahren als Kulturredaktor für das Schweizer Radio in Lugano (RSI), damals die Migranten in der deutschen Schweiz porträtierte.
Am Ende des Bandes finden sich auch "Gedanken der zweiten Generation", unter denen man auch so erhellende Sätze wie diese von Larissa Alghisi Rubner findet: "Unsere Eltern haben uns etwas mitgegeben, das Eliteschulen oder Kulturreisen nicht lehren. Nämlich dass man die Wahl hat, unbefriedigende Umstände hinter sich zu lassen, um – etwa in einem anderen Land – etwas Besseres zu suchen und das Beste daraus zu machen."
GRAZIE A VOI.
Ricordi e Stima – Fotografien zur italienischen Migration in der Schweiz
A cura di / Herausgegeben von
Marina Widmer
Guliano Alghisis
Fausto Tisato
Rolando Ferrarese
Limmat Verlag, Zürich 2016
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