Marcel Gautherot, geboren 1910 in Paris als Sohn eines Fabrikarbeiters und einer Näherin, begann als Fünfzehnjähriger (!) ein Abendstudium der Architektur, das er zwar nicht abschloss, doch der Architektur blieb er verbunden. Er entwarf Möbel, interessierte sich für modernes Wohnen, nahm an einem Möbeltischlerei-Wettbewerb teil. Als er später als Fotograf in Brasilien lebte, erklärte er: "Fotografie ist Architektur." Le Corbusier, für den in der Architektur das Licht das entscheidende Moment war, inspirierte ihn zu dieser Aussage – denn auch die Fotografie ist eine Lichtkunst.
Was der Architektur und der Fotografie überdies gemeinsam ist, ist die Komposition. Allerdings in ganz unterschiedlicher Form, denn in der Fotografie wird nichts physisch Neues erschaffen (wie in der Architektur), sondern bereits Vorhandenes eingerahmt.
Im vorliegenden Band finden sich neben eindrücklichen Architektur-Aufnahmen (besonders gelungen finde ich die aus Brasilia und Rio de Janeiro) auch ganz andere Motive: Pflanzen, Landschaften, Boote sowie Menschen, junge und ältere, in ganz unterschiedlichen Situationen. Etwa bei einem Fest, bei einer Prozession oder an der Bushaltestelle. Diese Bilder geben auch einen quasi ethnologischen Einblick in das Leben der Brasilianer – auf den Strassen, beim Volkstanz, beim Karneval, vor einer Wallfahrtskirche. Besonders angesprochen haben mich die Makrelenfischer beim Einholen der Netze in Bahia.
Marcel Gautherot ist in diesem riesigen Land viel herumgekommen. Aufnahmen aus Belém, Manaus, Belo Horizonte, São Paulo, Salvador, Minas Gerais, Alagoas, Maceió und und und zeugen davon. Neben den brasilianischen Fotografien gibt es auch Bilder aus Mexiko, aus den 1930er-Jahren, zu entdecken. Man glaubt gleichsam zu spüren, wie fasziniert er von der Exotik dieser beiden Länder gewesen ist.
Michel Frizot weist in seinem Beitrag "Der Meister des magischen Quadrats" unter anderem darauf hin, dass die wesentlichen Elemente des "Stils" von Marcel Gautherot den Merkmalen der Rolleiflex zu verdanken seien.
In den Jahren 1925-1930 bestimmten drei Handkameras mit kleinem Negativformat den Markt. Die Ermanox (die sich durch ein lichtstarkes Objektiv auszeichnete), die Leica (deren Mikrosucher eine der menschlichen Sicht entsprechende Bildwirkung ermöglichte) und die Rolleiflex (die vor dem Bauch getragen wurde und dem Fotografen erlaubte, auf der horizontalen Mattscheibe des Apparats 'das endgültige Sucherbild' zu sehen).
Die Rolleiflex verfügt jedoch noch über eine andere, mich ausserordentlich faszinierende Eigenart: Das Format der Bilder ist quadratisch (das gebräuchliche Format ist rechteckig) und das bedeutet, dass ein Bild anders als üblich aufgebaut werden musste. "Try to use all of the square" lautete die Devise der Rollei-isten. Und Gautherot beherrscht sie!
Neben dem aufschlussreichen Text von Frizot finden sich noch weitere Texte, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Gautherots Werk befassen. 'Die moderne Synthese: Gautherot in Brasilien' von Samuel Titan Jr., 'Gautherot in den Gärten von Burle Marx' von Jacques Leenhardt und 'Die Konstruktion des Schattens' von Lorenzo Mammi.
Fotos laden nicht nur zu Zeitreisen ein, sie erwecken oft auch Sehnsüchte. Ich war schon einige Male in Brasilien (und das ist mit ein Grund, weshalb ich diese Bilder mit Sympathie betrachte), doch noch nie in Brasilia. Dass ich beim nächsten Mal jetzt endlich einmal dahin will, hat auch mit Marcel Gautherots Aufnahmen zu tun ...
Marcel Gautherot
Die Monografie
Herausgegeben von Samuel Titan Jr. und Sergio Burgi
Scheidegger & Spiess, Zürich 2016
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