Wednesday 16 December 2020

David Szalay: Turbulenzen

Dass alles miteinander zusammen hängt, davon haben wir zwar gehört (jedenfalls einige), doch damit wir auch wirklich verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir es spüren, denn Verstehen ist ein Gefühl. Eine Möglichkeit dieses Fühlens ist das Geschichtenerzählen, und ein besonders gelungenes führt uns David Szalay in Turbulenzen vor, in dem er Ereignisse miteinander verknüpft, die sich aus Flugreisen ergeben.

Eine ältere Engländerin, die in Madrid lebt und in London ihren kranken Sohn besucht hat, fühlt sich auf dem Flug von Gatwick nach Barajas unwohl. Ihr anteilnehmender Sitznachbar aus Dakar weiss noch nicht, dass ihn bei seiner Ankunft die Nachricht von einem tragischen Verkehrsunfall erwartet, bei dem ein Taxi involviert ist, in dem der Flugkapitän Werner sitzt, der ein Frachtflugzeug nach São Paulo fliegen soll, wo er die Nacht mit einer Journalistin verbringt, die am folgenden Tag in Toronto eine bekannte Schriftstellerin interviewen soll ...

Turbulenzen erzählt davon, wie ganz unterschiedliche Leben kurz aufeinandertreffen und wieder auseinandergehen und ich frage mich, ob wohl auch in der wirklichen Welt jemand so Regie führt wie das der Autor von seiner Fantasie geleitet tut. Jedenfalls kommen mir diese Zusammentreffen sehr real vor. Dass sie mit dem Unterwegssein in Flugzeugen in Verbindung stehen, gibt dem Autor auch die Möglichkeit, sich über diese den menschlichen Instinkten eher fremde Art des Reisens auszulassen. "Sie war jedes Mal erstaunt, erlebte jedes Mal eine tiefe Überraschung, wenn sich die Nase des Flugzeugs hob, wenn es sich vom Erdboden löste – obwohl sie eher das Gefühl hatte, dass der Erdboden unter ihr wegsackte." Oder: "Werner rief sich gern ins Bewusstsein, dass das Flugzeug in diesem Moment nicht mehr nicht abheben konnte, dass es keine Macht gab, die es am Boden gehalten hätte."

Da ich selber oft in Flugzeugen sitze und die meisten der aufgeführten Destinationen selber angeflogen bin bzw. mich dort aufgehalten habe (Delhi, Doha, Toronto, Hongkong, São Paulo, Bangkok, Seattle, Budapest, Ho-Chi-Minh-Stadt, Madrid, London), kommt mir vieles vertraut und gleichzeitig unwirklich vor, denn David Szalay bringt mir zu Bewusstsein, dass Lebensschicksale eigentlich ständig aufeinander treffen, obwohl wir es selten merken. Das Kennedy-Zitat in der letzten Geschichte bringt es auf den Punkt: "Denn unter dem Strich verbindet uns alle die Tatsache, dass wir diesen kleinen Planeten bewohnen. Alle dieselbe Luft atmen. Alle eine gute Zukunft für unsere Kinder wünschen. Alle sterblich sind."

Ich lese Turbulenzen wesentlich als ein Buch des Staunens. Einerseits über das Fliegen ("Unfassbar, wie winzig das Flugzeug war, sowohl angesichts der Ausdehnung des Ozeans, den sie überflogen, als auch angesichts der ungeheuren Leere, die sie auf allen Seiten umgab."), andererseits über die Empfindungen, die Begegnungen mit anderen auszulösen vermögen ("Es war einer der Momente, dachte sie, die uns zu dem machen, was wir sind, sowohl im Hinblick auf uns selbst als auch im Hinblick auf andere Menschen. Dergleichen schien aus heiterem Himmel zu passieren, und dann wirkte es für immer nach, und man begriff allmählich, dass man es nicht abschütteln konnte, dass man nie wieder derselbe Mensch wäre.").

Turbulenzen ist ein magisches Buch, das auf mich realer wirkte als das wirkliche Leben.

David Szalay
Turbulenzen
Carl Hanser Verlag, München 2020

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