Mein Hotel liegt direkt am Meer. Als ich eintreffe erläutert die Rezeptionistin am Telefon einem offenbar begriffsstutzigen Motorradfahrer, wie er die Parkgarage finden könne. Als ich sie später frage, ob der Mann eingetroffen sei, sagte sie, er schon, das Motorrad nicht.
Beim Frühstück wähne ich mich in einem Fellini-Film. Einige haben Tische reserviert, nicht nur am Fenster, auch vor einer Säule. Als mir eine ältere Frau zulächelt, geht mir mein brasilianischer Freund Ricardo durch den Kopf, der vor Jahren meinen geplanten Besuch in Torres, einer Stadt am Strand in Rio Grande do Sul, so kommentierte: Da wirst du viele schöne junge Frauen im Bikini zu sehen kriegen, die dich jedoch keines Blickes würdigen. Die einzigen, die dich anschauen, sehen so aus wie deine Grossmutter, sind aber wahrscheinlich jünger als du.
Alássio, Einwohnerzahl um die 10’000, ist eine Touristenhochburg. Anfang September vor allem für ältere Semester. Ich staune über die günstigen Cappuccino-Preise: 1 Euro 70 oder 1 Euro 80.
Eine Buchanzeige per Email. Ob mich eine Analyse darüber, wie wir über die Covid-Impfung getäuscht wurden, geschrieben von einer Rechtsanwältin, zu besprechen interessiere? Definitiv nicht. Ich finde sogenannte Aufarbeitungen wohlfeil. Was sie bewirken sollen, ist mir schleierhaft, denn dass der Mensch aus der Geschichte nichts lernt, ist nun wirklich nichts Neues.
Meine derzeitige Lektüre: Robertson Davies‚ The Lyre of Orpheus, reich an so wunderbaren Sätzen wie: „Maria thought of herself as a determined scholar, not as a rich man’s wife, or a woman of remarkable beauty which drew all sorts of unscholarly things into her path.“ Sowie eine Geschichte der Hitze, die mich zum ersten Mal den zweiten Satz der Thermodynamik begreifen lässt: Hitze fliesst immer von heiss zu kalt. Nie umgekehrt.
Ortsansässige empfehlen regelmässig den Besuch von Touristenattraktionen. Mich interessieren weder Museen noch historische Stätten und ich wundere mich, dass man sich dafür interessieren kann. Ich muss nicht wissen, was meine Vorfahren angeblich gedacht und gefühlt haben. Als ob das jemand wüsste! Ich weiss nicht einmal, was ich selber denke, habe eher den Eindruck, dass in mir etwas denkt, wovon ich nur zu einem ganz geringen Teil etwas mitkriege.
Es sei klar besser, sagt mir die Rezeptionistin, direkt beim Hotel und nicht via Booking zu buchen. Und wieso das? Weil man dann immer über den Preis verhandeln könne. Ich habe alles bezahlt, ausser der Kurtaxe, sage ich zwei Tage später beim Check-out. Due Euro, winkt sie ab.
35 Minuten Verspätung habe mein Zug nach Ventimiglia, informiert mich Trenitalia per Email. Am Bahnhof sagt die Anzeigetafel dann die Verspätung betrage 60 Minuten. Als ich zwanzig Minuten später noch einmal hinschaue, ist keine Verspätung mehr aufgeführt. Ich gehe zum Gleis, wo gerade ein anderer, ebenfalls verspäteter Zug nach Ventimiglia einfährt, allerdings kein Intercity, für den meine Fahrkarte gültig ist. Ob ich auch diesen Zug nehmen könne, frage ich einen Bahnangestellten, der meint, vermutlich schon, er würde es jedenfalls empfehlen, denn der Intercity habe eine Stunde Verspätung. Ich beschliesse, es zu riskieren, werde dann gar nicht kontrolliert, doch leider setzt sich eine Frau mit zwei Kindern neben mich, die einen derartigen Lärm machen, dass ich meine Stimme erhebe und ohne nachzudenken diesen ziemlich bescheuerten Satz von mir gebe. „Nella prima classe il silenzio é obligatorioI“ Dann ist Ruhe. Als der Lärmhaufen in Sanremo aussteigt, verabschiedet sich das Mädchen mit einem lachenden Ciao.
Als ich in Cannes meine Email konsultiere, erfahre ich von Trenitalia, dass mein verspäteter Intercity in Arquata Scrivia zu einem definitiven Stillstand gekommen und ich autorisiert sei, den Regionalzug zu nehmen.
Die Unterschiedlichkeit der Leute macht mich immer mal wieder staunen. Im Zug: Die zwei Araberinnen, die sich offenbar nur sehr, sehr laut unterhalten können. Die Afrikanerin in buntes Tuch gehüllt, die mich über den Gang hinweg bittet (und nicht etwa die, welche neben ihr sitzen) kurz auf ihr Gepäck aufzupassen. Die junge Frau, die mir zu Hilfe eilt, als mein Koffer umfällt. Ob ich wohl so alt aussehe, dass ich Hilfe brauche?
Eigenartig, in einem Hotel zu sein, wo ich ausschliesslich die Landessprache höre. Jetzt in Toulon ist es so, doch auch in Alássio ist mir das aufgefallen.
Am Hafen von Toulon, einer Stadt mit 160’000 Einwohnern, geht mir Schopenhauer durch den Kopf, der beim Anblick der Galeerensklaven zutiefst erschüttert war und den Glauben an die Menschheit verlor. In der Innenstadt dann Erinnerungen an Dijon.
Nach dem ausgiebigen Hotelfrühstück habe ich zwar keinen Hunger, doch dem Thai-Restaurant beim Bahnhof kann ich dann doch nicht widerstehen. Ein Fehler, die Hühnersuppe schmeckte, als ob man anstatt eines Kaffeelöffels Bouillon (oder was auch immer es gewesen ist) zwei Kochlöffel davon reingeschmissen hätte. Ich brachte es nicht über mich, aufzuessen.
Cappuccino in Frankreich ist meist eine Enttäuschung, Café au lait oft die bessere Option. Mit einer Ausnahme: In einer Bar Tabac war er exzellent, für zwei Euro!
Heftiger Wind, der mich zeitweilig an Rio Grande gemahnt, wo ich mich wunderte, dass jemand damit leben kann. Gewohnheit, wie immer.
Nach gut fünf Stunden der Stadterkundung, glaube ich es gesehen zu haben und ziehe mich ins Hotel zurück, wo ich mir Jerzy Kosinkis L’oiseau barriolé vornehme und unter anderem lerne, dass ein Drittel der im Zweiten Weltkrieg ermordeten Juden weniger als 16 Jahre alt war. Kosinski, von dem meine verstorbene Freundin Irène schwärmte, habe ich einst verschlungen … und auch jetzt packt er mich.
Eine Literatursendung im Fernsehen. Sehr französisch, intelligentes Palaver von Leuten, die alles für bedeutsam halten, vor allem sich selber. Früher mochte ich das nicht nur, ich war beeindruckt, und nahm es ernst, im Gegensatz zur Politik, die ich immer schon hohl gefunden habe. Heute sehe ich nur noch Eitelkeit und Selbstüberschätzung.
Schon komisch, was ich in̈ Hotelzimmern so alles google, von Heather Mills bis zu Olivia Newton-John, die in Australien offenbar ein Staatsbegräbnis gekriegt hat. Was wir Menschen alles für normal halten – Staatsbegräbnisse! –zeigt wie durchgeknallt wir sind.
Im Internet lese ich, eine Schweizer Politikern habe auf Instagram ein Bild von sich gepostet, das zeigt wie sie auf ein Bild von Maria mit Jesuskind schiesst, worauf sie ihren Job als Kommunikationsberaterin (!?) sowie politische Ämter verliert. Wie konnte sie nur, was hat sie sich bloss gedacht? wird nun gefragt. Diesen Fragen liegt die Annahme zugrunde, wir wüssten, was wir tun. Das ist Humbug. Wir haben keinen Schimmer, warum wir tun, was wir tun. Was wir bewusst äussern ist Theater bzw. klassische Dissonanz-Reduktion. Wir sind viel zu komplex, um uns selber zu verstehen. Das Unbewusste regiert uns. Was uns wirklich antreibt, wie wir wirklich denken, zeigt sich allein in unserem Tun.