Wednesday, 12 March 2025

Das Erwachen der Erde

Nicht nur bestimmt die Umwelt unser Leben, unser Leben beeinflusst auch die Umwelt. "Wir und andere Lebewesen sind mehr als nur Bewohner der Erde; wir sind die Erde – das Ergebnis ihrer physikalischen Struktur und ein Motor ihrer globalen Kreisläufe. Die Erde und ihre Geschöpfe sind so eng miteinander verwoben, dass wir sie uns als ein Ganzes vorstellen können."

Die Vorstellung, die Erde sei belebt, entstammt dem Animismus; in neuerer Zeit trat James Lovelock mit seiner Gaia-Hypothese hervor, welche die Erde als lebendes Gebilde versteht, und anfangs dafür entweder Beifall oder Spott erntete. Allmählich jedoch schwand der wissenschaftliche Widerstand gegen Gaia.

"Wie das Leben unseren Planeten formt", so der Untertitel, lässt sich unter anderem an den Städten zeigen, deren Entstehen, worauf James Lovelock hingewiesen hat, "der Entwicklung von Insektenkolonien zu folgen scheint." Termiten in einem Termitenbau verhalten sich genau so wie ihr integriertes Programm es ihnen vorgibt. Und die Menschen in ihren Bürotürmen unterscheiden sich nicht – auch sie tun, was ihnen vorgegeben ist: sie starren alle auf ihre Computerbildschirme."

Unterteilt ist das Buch in drei Abschnitte: Gestein, Wasser, Luft. Dabei macht der Autor immer wieder auf Aspekte aufmerksam, auf die ich gar nicht gekommen wäre. "Was die Masse angeht, enthält die
Erde wesentlich mehr Gestein als Wasser und bedeutend mehr Wasser als Luft." Und er weist darauf hin, dass eine andere als die gewohnte Betrachtungsweise uns auch die Welt neu zu sehen erlaubt. Leben sei mehr ein Spektrum als eine Kategorie, mehr Verb als Substantiv. "Es ist weder eine bestimmte Art von Materie noch eine Eigenschaft der Materie, sondern vielmehr ein Prozess – eine Leistung. Leben ist etwas, was die Materie tut."

Das Erwachen der Erde ist ein überaus vielfältiges Werk, das anhand neuerer Forschungen zeigt, dass das althergebrachte Weltbild nicht nur ergänzt, sondern grösstenteils einer anderen Sicht der Dinge weichen muss. So weiss man heute, dass das Erdinnere, entgegen früheren Annahmen, keineswegs leblos, sondern voller Mikroorganismen ist, die im Gegensatz zu ihren Vettern an der Oberfläche, uralt und langsam sind und sich nur selten fortpflanzen.

 Es ist erstaunlich, was Forscher (Männer wie Frauen) über diese unterirdische Biosphäre herausgefunden haben. "Mehr als 300 Meter unter der Erde verwandelten Mikroorganismen das Gestein in Boden." Doch ich staune nicht nur, ich wundere mich auch, wenn mit einer beiläufigen Sicherheit behauptet wird: "Vor mehr als vier Milliarden Jahren, als die erste ozeanische Kruste auf der Erde alterte und abkühlte, war sie irgendwann schwerer als der Mantel, auf dem sie schwamm, und sank in die Tiefe, ein Prozess, den man Subduktion nennt. Während sie in den Mantel hinabstieg, gaben die ozeanische Kruste und die darüberliegende Sedimentschicht das in ihnen eingeschlossene Wasser frei, sodass der Schmelzpunkt des umgebenden Erdmantels sank. Bestimmte Bestandteile des Mantels schmolzen und bildeten schwimmendes Magma, das schließlich aus Vulkanen ausbrach, abkühlte und zu neuem Gestein wurde." 

Solche Aussagen bzw. Arten des Denkens erschliessen sich mir nicht, da ich da nur die Worte verstehe, sie jedoch nicht emotional verbinde, also keine Bilder im Kopf entstehen. Dazu kommt, dass ich Leute, die mir erzählen, was vor vier Milliarden Jahren geschehen ist, nicht wirklich ernst nehmen kann. Zugegeben, das ist vor allem eine Aussage über mich, doch bin ich nicht der einzige, der die Zeit und noch vieles andere (mit eingeschlossen das Ich) für eine Illusion hält. Auch die von Ferris Jabr erwähnten Lakota, die traditionell eine enge Beziehung zu Mutter Erde wie auch zu Geistern pflegen, halten die Zeit für eine Illusion. Nachzulesen bei Kathleen Norris: Dakota: A Spiritual Geography.

Andererseits: So schnell gebe ich nicht auf. Böden, lernt Ferris Jabr bei seinen Recherchen, sind "'lebende Systeme', deren vielfältige Teile 'zusammenwirken und auf sich selbst regulierende, sich selbst erhaltende Weise funktionieren'". In der Folge erfährt auch des Autors Garten eine Veränderung. Gesunde Pflanzen lockerten den Boden auf und wurden "zu Zufluchtsorten für Mikroorganismen und Pilze, und chemische Umwandlungsprozesse wie auch die Nährstoffkreisläufe kamen wieder in Gang." Nach und nach wurde der Boden weicher, dunkler und fruchtbarer. 

 Obwohl wir über die verwickelten, wechselseitigen ökologischen Abhängigkeiten, die unseren Planeten am Leben erhalten, mehr wissen als je zuvor, hapert es noch allzu oft an der Anwendung dieses Wissens. Es ist dies ein Rätsel allgemeiner Art: Wir wissen, was zu tun ist, tun es aber nicht. Statt Gründe für unser Nichtstun zu finden, sollten wir uns an Ferris Jabs Gartenpflege ein Beispiel nehmen. Nicht jeder hat einen Garten? Es ist ein Beispiel! Ums Selber-Denken wird man nicht herumkommen.

Das Erwachen der Erde ist eine imponierende Fleissarbeit, detailreich und gut geschrieben. Ich staune nicht wenig, worüber heutzutage alles geforscht wird und was für Instrumente den Forschenden zur Verfügung stehen. Schon mal vom Amazon Tall Tower Observatory (»Amazonas-Hochturm-Observatorium«) gehört?

Die Erde ist deswegen so schwierig zu verstehen, weil sie sich ständig wandelt. Ferris Jabr vergleicht den Planeten Erde mit der Musik. "Wenn die richtige Abfolge von Tönen gespielt und auf die genau richtige Weise mit anderen Tonfolgen kombiniert wird, hören wir nicht nur Geräusche, sondern wir erleben die Musik. Ebenso erwächst auch das lebende Gebilde, das wir Erde nennen, aus einer höchst komplizierten Masse von Wechselbeziehungen: aus den wechselseitigen Umwandlungen der Organismen und ihrer Umwelt." Eine ausgesprochen hilfreiche Sichtweise. Wenn wir sie uns zu eigen machen, werden wir auch mit der Erde pfleglich umgehen.

Ferris Jabr hat sich breit informiert, viele Forscher und Forscherinnen aufgesucht, die sich mit Gestein, Wasser und Luft auseinandersetzen. Dabei verliert er nie das journalistische Credo des Storytelling aus den Augen. Das Erwachen der Erde ist erstklassiger nordamerikanischer Qualitätsjournalismus.

Ferris Jabr
Das Erwachen der Erde
Wie das Leben unseren Planeten formt
Kunstmann, München 2025 

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