Kaum
war Saddam Hussein hingerichtet, waren auch schon Bilder seiner
letzten Minuten zu sehen: zuerst die zensurierte Fassung, ohne Ton,
im staatlichen irakischen Fernsehen, dann die unzensurierte, mit Ton,
im Internet.
Als
nach Ausstrahlung der Fernsehversion Stimmen laut wurden, die wissen
wollten, es sei bei dieser Hinrichtung alles andere als anständig
zugegangen — ganz so als ob der Tod durch den Strang anständig
sein könnte — meldete sich der nationale irakische
Sicherheitsberater und liess verlauten, Saddam Hussein sei vor,
während und nach seiner Hinrichtung respektvoll behandelt worden —
ganz so als ob jemanden zu hängen und Respekt so recht eigentlich
zusammengehörten. Doch dann tauchten die Bilder, die einer der bei
der Hinrichtung Anwesenden mit seinem Video-Handy aufgenommen hatte,
im Internet auf und straften die Worte des nationalen irakischen
Sicherheitsberaters Lügen, denn auf diesem Video war zu hören, wie
Saddam Hussein beschimpft und verhöhnt wurde.
Die
Reaktion der politisch Verantwortlichen war vorauszusehen: sie
suchten nach demjenigen, der das Video gemacht hatte; die Reaktion
der Massenmedien, vertreten durch CNN, war ebenso vorauszusehen: sie
interviewten den nationalen irakischen Sicherheitsberater, der, wie
ebenfalls vorauszusehen, auf keine der Fragen antwortete, sondern von
Versöhnung etcetera schwafelte.
Sah
man sich das Handy-Video im Internet an, war schnell einmal klar,
dass es bei dieser Hinrichtung darum gegangen, worum es bei einer
Hinrichtung immer geht: um Rache. Anders gesagt: hier konnte man
sehen und hören, was Politiker und Massenmedien uns fast immer —
es sei denn, es liesse sich propagandistisch ausschlachten —
vorenthalten.
Die
Massenmedien, so wird gemeinhin behauptet, hätten eine
"gatekeeper"-Funktion, bestimmten also, was wir zu sehen
und zu hören kriegen: unsere gefilterte Mediensicht der Dinge
verdanken wir demnach — hoffentlich — verantwortungsbewussten und
der Aufklärung verpflichteten Menschen, die in — häufig
klimatisierten — Redaktionsstuben auf der ganzen Welt das
sogenannte "agenda-setting" betreiben. Mit andern Worten:
uns sagen, womit wir uns gefälligst zu befassen hätten. Und die
Medienverantwortlichen sind sich einig, was unsere Aufmerksamkeit
verdient: auf allen Kanälen werden, weltweit, dieselben Prioritäten
gesetzt.
Vor
dem Internet und den Handy-Videos galt für die Massenmedien, was der
Schweizer Kabarettist César Kaiser einmal am Beispiel der Polizei
illustrierte. Die Polizei sei ein enorm "Gruppen förderndes"
Organ: entweder es bildeten sich Gruppen, weil sie auftauche oder sie
tauche auf, weil sich Gruppen bildeten. Ähnliches liesse sich für
die Medien sagen: sie tauchen auf, weil etwas vorgefallen ist oder es
wird etwas inszeniert, weil die Medien auftauchen. Das gilt nach wie
vor, doch es gilt heutzutage etwas weniger, weil, Dank der Technik,
jeder und jede, hier und jetzt, zum Medienproduzenten werden kann.
Mit anderen Worten: die "gatekeeper"-Funktion, und damit
die Macht der traditionellen Nachrichten-Produzenten, scheint
zunehmend in Auflösung begriffen.
Seit
es das Internet gibt, können wir sehen, was wir sehen wollen. Also
hauptsächlich Pornografie, nach wie vor der Motor des Internets,
oder eben die Bilder von Saddams Hinrichtung, die wieder einmal
eindrücklich gezeigt haben, wie leicht Bilder ohne Ton zu
Propagandazwecken benutzt werden können.
Ein
Foto, um verstanden zu werden, muss im Kontext gesehen werden. Wenn
ich nicht weiss, wer Saddam Hussein ist, werden mir die paar
verwackelten Videobilder nicht viel sagen. Wer ist der Mann also, was
ist der Kontext? Nun ja, der Kontext ist immer konstruiert und
abhängig davon, was die Menschen glauben: für seine Anhänger ist
Saddam ein anderer als für seine Gegner. Jeder baut sich also seinen
eigenen Kontext, ganz nach Belieben? Klar doch, obwohl: es gibt
Fakten. Und diese sehen, im Falle von Saddams Hinrichtung, so aus,
dass er verhöhnt und beschimpft wurde, als ihm der Strick um den
Hals gelegt und er zu Tode gebracht wurde.
Pressefotos
ohne Bildlegenden können nur schwer verstanden werden und so recht
eigentlich ist der Begleittext zum Bild meist wesentlicher als das
Bild selbst. Ein Beispiel: ein älterer Mann und eine ältere Frau
sitzen sich an einem Tisch in einer Cafeteria gegenüber. Er liest
die Zeitung, sie tunkt ein Hörnchen in ihre Kaffeetasse. Die
Bildlegende sagt: eheliches Zusammensein nach zwanzig Jahren
Verheiratetsein. Manche Verheiratete mögen jetzt denken: Ja, so
isses; andere werden sagen: also nein, bei uns ist das überhaupt
nicht so; und noch einmal andere werden womöglich einfach grinsen
und hoffen, bei ihnen werde es mal nicht so weit kommen. Doch
aufgepasst: das Foto zeigt nichts dergleichen, denn ein Foto kann
das, was diese Bildlegende suggeriert, gar nicht zeigen. Was unsere
Augen wahrnehmen und was der Text zum Bild sagt, dass wir sehen
sollen, hat in diesem Fall — und in vielen anderen Fällen —
überhaupt nichts miteinander zu tun. Es kann nämlich gut sein, dass
der Mann und die Frau gar nicht verheiratet sind, und es kann ebenso
gut sein, dass sie gerade bevor (oder nachdem) der Fotograf auf den
Auslöser gedrückt hat, miteinander geredet haben. Mit anderen
Worten: ein Bild sagt keineswegs mehr als tausend Worte, vielmehr
brauchen wir tausend Worte, um überhaupt zu verstehen, was wir
eigentlich anschauen — erst dann, wenn wir wissen, was wir vor
Augen haben, kann uns ein Bild mehr als tausend Worte sagen.
Was
für Fotos gilt, gilt ebenso für Videos — wir können nur sehen,
was wir wissen. Weshalb wir denn auch immer auf die Geschichte zu den
Bildern angewiesen sind. Und da es fast nie nur eine Geschichte,
sondern meist mehrere — und möglicherweise voneinander abweichende
— Geschichten zu einem Bild gibt, ist ein wirkliches
Bilder-Verstehen nur möglich, wenn wir angemessen — also über
verschiedene Kontexte — informiert sind.
Angesichts
der Tatsache, dass das digitale Zeitalter, auch die
Bildermanipulation, die es schon immer gab, leichter gemacht hat,
erstaunt es nicht wenig, wie sehr wir Bildern vertrauen — wir
halten Bilder grundsätzlich für wahr, so lange jedenfalls, bis
jemand das Gegenteil beweist.
Doch
wie kommt es eigentlich, dass wir Bildern mehr zu trauen scheinen als
Worten? Möglicherweise, weil wir Lügen eher mit Worten und nicht so
sehr mit Sehen verbinden. "Seeing is Believing" heisst es
bekanntlich — auch wenn das Gegenteil oft genauso wahr ist, wir
also vielfach sehen, was wir sehen wollen — und meint nicht
zuletzt: man kann mir viel erzählen, doch glauben werde ich nur, was
ich mit eigenen Augen gesehen habe. Dazu kommt, dass fotografische
Evidenz bedeutet, dass das, was sich im Augenblick der Aufnahme dem
Kameraauge präsentiert hat, auch so existiert hat. Man kann das Foto
von einem Bleistift ganz verschieden interpretieren, je nachdem,
welche Bedeutung man dem Bleistift beimisst, ob er in einer Kultur
mehr oder weniger verbreitet ist, etcetera, etcetera, doch ein
solches Foto wird generell als Beweis akzeptiert, dass dieser
Bleistift so zur Zeit der Aufnahme existiert hat.
Je
mehr die Bilder die Medienwelt dominieren, desto notwendiger wird es,
sich mit der Sprache der Bilder beziehungsweise dem Bilder-Lesen
auseinanderzusetzen. Das meint: Bilder gehören befragt. So zum
Beispiel: Warum hat die kleine Kim Phuc auf dem berühmten Foto von
Nick Ut aus dem Vietnamkrieg keine Kleider an? Der Bub neben ihr ist
doch angezogen. Und warum rennen die Kinder und die Soldaten hinter
ihnen nicht? Was ist überhaupt passiert? Und wo?
Solche
Fragen stellen Kontext her und machen ein Bild erst verständlich,
denn es sind die Informationen zum Bild (und nicht das Bild), die
unsere Wahrnehmung bestimmen. Im Falle des Fotos von Nick Ut: Ein
Flugzeug hatte gerade Napalm abgeworfen und der kleinen Kim Phuc die
Kleider versengt. Mit dieser Information beginnen wir zu erahnen, was
damals vorgefallen ist. Zudem: wenn wir jetzt noch erfahren, dass es
sich um einen Akt von "friendly fire" handelte, "sehen"
wir bereits wieder ein anderes Bild. Und mit jeder weiteren Frage
wieder ein neues Bild beziehungsweise neue Bilder.
Und
so gilt denn: Damit ein Bild uns mehr als die berühmten tausend
Worte sagen kann, brauchen wir zuerst (fast) tausend Worte, die uns
erklären, was wir vor Augen haben.
2007
© Hans Durrer / 2007 © Soundscapes