Sunday, 28 September 2025

Glimpses of Japan

My first stroll around "my" hotel in Osaka lands me in Korea Town where consumerism is in full bloom. Not many people speak English, and not many (including me) are adept at reading electronic maps. One young employee at "my" hotel is however so fluent and without a trace of an accent that I wonder where he learned  it. From listening to music, he says; he has never been abroad.

Ratatouille with chicken was among the dishes offered for breakfast. A first for me - it tasted fabulously. And then there were pancakes, pain au chocolat, salads, granola and ...

Yöu need to go to Namba, I am told. It is where everybody goes. And so, reluctantly, I go ... only to turn around almost immediately. Too many people, definitely. Instead I am opting for side streets next to "my" hotel that are amazingly quiet and remind me of "my" Bangkok of 30 years ago.

The bagel I later ordered I thought a bit overpriced until I realised that I had ordered a full menu with soup and iced tea.

Osaka, Japan, 24 September 2025

In my younger years I often felt compelled to go and do this and that. I'm glad I do not feel like this anymore. When riding on a train, for instance, I nowadays rather often look out the window instead of educating myself with a book. To simply do nothing is new to me. Do I enjoy it? No idea, really; it's what I do.

The excitement I most of my life experienced when travelling (how exotic everything foreign appeared, and how cosmopolitan I felt to be where I imagined life was happening) is gone. A certain calm has settled in - which however does not apply when I have to rapidly change planes. Also, in recent years I have often had the sensation of being where I wasn't, physically that is. In the Hungarian town of Debrecen it felt like I was in Mendoza, Argentina; and here in Osaka it sometimes feels like I could be pretty much anywhere in Asia.

To aimlessly wander about town motivates me to concentrate on my walking. There isn't much more to do. It feels kinda numbing, like you're not really here. Also, it is rainy and warm, the sky is grey. In a cafe I start reading Shusaku Endo's The Samurai.

 The times when I do not know what to do have definitely increased, the older I have become, things do not seem so important anymore or am I fooling myself?

I wonder why I fancy hotel rooms. Could it be because my stay will be temporary? I'm often simply lying on the bed doing nothing; this is totally new to me for doing nothing has never figured even as an option. Instead there has always been the imperative to do something.

As usual I take a lot of photographs, mostly of flowers. Quite some I know from Brasil, others from my native Switzerland. The one below however is new to me.

Osaka, Japan, 25 September 2025

My sandals are falling apart; I decide to buy new ones. The people I ask for shops are shrugging their shoulders, save for the owner of a shoe shop who gives me directions in Japanese that I do not understand. I do however embark on the way she has indicated, ask again and then realise that I have given this man a headache because sandals for men are obviously not common in Japan. Don't worry, I said, and dropped my sandals-project.

All these people running from here to there, it is mind boggling.and, from time to time I'm asking myself: What am I actually doing here? No idea, really. In any case: Big cities are clearly a thing of the past for me

The young couple near the train station in Kyoto who is showing me the way to "my" hotel is about to get married. Tomorrow, their families will meet for the first time. They confess to be nervous and, after the wedding, plan to move to Tokyo where the future husband is from.

The check-in at the hotel works robot-assisted, I'm informed. This means you register yourself using an iPad while being observed by a dinosaur who's moving back and forth.

Finally, the sun shows up. This is the first time since I arrived four days ago. It is irritating how my soul is depending on the weather.

Wednesday, 24 September 2025

Bob Dylan: Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist

Für mich ist Bob Dylan ein hervorragender Songwriter, seine Stimme ist hingegen nicht so mein Ding. Versionen seiner Songs von anderen Interpreten ziehe ich (meistens, nicht immer) vor. Als Dichter habe ich ihn nie wirklich wahrgenommen, obwohl ich einige seiner Liedzeilen auswendig kann, was natürlich auch daran liegt, dass Dylan-Songs zum Repertoire des Gitarrenduos gehörte, von dem ich einstmals ein Teil war.

Ich habe Sänger und Songwriter nie als Denker begriffen. Möglicherweise deswegen nicht, weil die Songs, die ich früher selbst geschrieben habe, intuitiv entstanden und ich Intuition und Verstand lange Zeit als Gegensatzpaare begriffen habe. Diese Interviews haben mich eines Besseren belehrt.

Eingeleitet werden die Gespräche von Heinrich Detering, der Dylans Satz: „The people in the songs are all me“ so kommentiert: „So erstaunlich diese Behauptung angesichts von Songfiguren klingt, die im spanisch-amerikanischen Krieg mitgekämpft haben, zum Schlägertrupp eines Bandenchefs gehören oder während ihres Monologs allmählich im Wahnsinn nächtlicher Halluzinationen versinken, so kennzeichnend ist sie für Dylans Songpoetik.“ Eine Sichtweise, die mich schmunzeln machte, da ich Dylans Satz ganz anders lese, nämlich so: Alle Aussagen, die wir über uns und die Welt machen, sind Aussagen über uns selber, denn etwas anderes kennen wir nicht, und können wir auch gar nicht kennen. Übrigens: Bei allen Wandlungen, die Dylan durchgemacht hat, so Deterich, ist sein „politisch-moralischer Wertekanon“ stabil geblieben. Wer auch immer wir sind, was auch immer wir tun, ein Kern in uns bleibt sich anscheinend immer gleich.

Die Gespräche sind chronologisch angeordnet. Da ich mit Bob Dylan-Songs gross geworden bin, erlaubt mir das eine ganz wunderbare Zeitreise in meine eigene Vergangenheit. Was mir bei den ersten zwei Interviews aus den 60er Jahren auffällt: Dass ich immer mal wieder lachen muss, was mich überrascht, denn ich habe Dylan bisher nicht mit Humor in Verbindung gebracht. Auf mich wirkte er meist abweisend und mürrisch, dabei ist er sehr witzig und schlagfertig.

Ich bin ganz erstaunt wie clever dieser Mann ist. Das liegt natürlich auch daran, dass ich mich nie wirklich mit ihm befasst habe. Jedenfalls verblüfft mich ungemein, wie eigenständig und hellsichtig sich der damals 24Jährige zu Museen und Galerien, ja zum Kunstbetrieb insgesamt äussert. Mit Labels wie „Protestsänger“, „Rock'n'Roll“ oder „Folkmusic“ kann er nichts anfangen. Er tut einfach, was er tut. „Ich schreibe, seit ich acht war. Ich spiele Gitarre, seit ich zehn war. Ich bin damit aufgewachsen, zu spielen und zu schreiben, was ich spielen und schreiben musste.“

Was denkt er über Politik, Hochschulen, Protestbewegungen und und und? Kaum ein Feld wird ausgelassen. Umso erfreulicher ist, dass es Dylan offenbar nicht drängt zu Allem eine Meinung zu haben. Doch die, die er hat, sind Ausdruck eigenständigen Denkens. Er selber hat das Studium abgebrochen, würde er anderen auch dazu raten? Nein, würde er nicht, doch „Ich würde ihm einfach das Studium nicht finanzieren.“ Hat er als Junge Präsident werden wollen? „Nein. Als ich ein Junge war, war Harry Truman Präsident. Und wer möchte schon Harry Truman sein?“

Berührend fand ich insbesondere, was er über sein Aufwachsen im nördlichen Minnesota sagte. „Im Winter war dort alles vollkommen still, nichts bewegte sich. Acht Monate lang.(...) Der ganze Mittlere Westen hat etwas stark Spirituelles, sehr subtil, sehr stark.“ Ich fühlte mich an Kathleen Norris' Dakota. A spiritual Geography sowie an Robert M. Pirsigs (in Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten) Schilderung der Dakotas erinnert, die ihm deswegen speziell waren, weil sie nichts Besonderes versprachen und deshalb auch nichts einzulösen brauchten.

Selbstverständlich habe er ein Ziel und eine Mission, sagt Dylan und zitiert Henry Miller: „Die Rolle des Künstlers ist es, die Welt mit Desillusionierung zu impfen.“ Nicht alle Songs haben die Zeit gut überstanden, wie er auch selber meint.

Die einzigen wahren Spiegel seien Wasserpfützen, sagt er einmal. Und führt dann aus: „Ein Bild, das Sie in einer Wasserpfütze sehen, führt in die Tiefe. Ein Bild, das man beim Blick in ein Stück Glas sieht, hat keine Tiefe und keine lebendig gewellte Bewegung.“ Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist enthält ganz viele solch smarter Aussagen. “Es geht nicht um die Songtexte. Die Leute denken das immer, und vielleicht geht es auf den Platten um die Texte, aber auf der Bühne sind nicht die Texte das Entscheidende, sondern alles läuft über die Phrasierung, die Dynamik und den Rhythmus.“ Wahre Worte!

Die Palette, über die sich Dylan in diesen Gesprächen auslässt, ist ungeheuer breit. Von Shakespeare zu Elvis, vom Lesen der Bibel zum Malen, von Hitler bis zu meiner Lieblingsantwort (auf die Frage, ob er glaube, was einige behaupteten, dass Jim Morrison in den Anden lebe): „Ich habe bisher nicht das Bedürfnis gehabt, mir dazu eine Meinung zu bilden ...“.

Das Ich-Jahrzehnt hat Tom Wolfe die 1970er Jahre genannt. Diese Ich-Zeit dauert nach wie vor an, alles wird in der heutigen Zeit personalisiert, auf sich selber bezogen. Welt- und lebensfremder geht kaum. Umso erfreulicher ist, dass Dylan davon wenig infiziert scheint. „Als 'Hound Dog' im Radio lief, war meine Reaktion nicht: 'Wow, was für ein toller Song, wer den wohl geschrieben hat?' Mir war im Grunde gleichgültig, wer ihn geschrieben hat. Es war egal. Er war einfach ... er war einfach da.“

Fazit: Grossartig! Eine überaus erhellende, anregende und sympathische Zeitreise!

Bob Dylan
Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist
Gespräche aus sechzig Jahren
Kampa Verlag, Zürich 2021

Sunday, 21 September 2025

YELLOWFACE

Athena Liu hat alles: Erfolg und Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil sie gut schreibt, sondern weil sie cool ist. Ihre Freundin June Hayward, selber Autorin, neidet ihr ihren Erfolg. Nichtdestotrotz verstehen sich die beiden. Athena zeigt June ihr neues Manuskript, June ist begeistert, tut jedoch so, als ob sie viel zu viel getrunken habe, um den Text beurteilen zu können. Kurz darauf stirbt Athena bei einem Unfall. June nimmt den Text an sich, überarbeitet ihn und gibt ihn als ihren eigenen aus.

Die Überlegungen, die sich June zu diesem Diebstahl und den nachfolgenden Lügen macht, sind so plausibel, wie das Rationalisierungen oft sind. Ihr Agent findet einen Verlag für sie. Dabei lernt man einiges über das moderne Verlagsgeschäft, in dem es von politischer Korrektheit und Missgunst nur so wimmelt. Das geht von kultureller Aneignung über Mikroaggressionen zu Sensitivity Readern.

Ihr Verlag glaubt an sie und fördert sie, doch eine Mitarbeiterin ist ihr feindlich gesinnt. Ihr Buch wird ein Erfolg; bei einer vollbesetzten Lesung trifft sie dann fast der Schlag, als sie glaubt, eine ihr bestens bekannte Person (wer, soll hier nicht verraten werden) im Publikum zu entdecken. Überraschend und clever ist dieser Roman..

Die Verwandlung von June Hayward zu Juniper Song, von einer privaten zu einer öffentlichen Person, wird überaus eindrücklich geschildert. Wer schon einmal eine sogenannte Fernsehpersönlichkeit privat erlebt hat, weiss, dass die von den Medien vermittelte Welt künstlicher und lebensfremder nicht sein könnte. Auch das lehrt einen dieser gut geschriebene Roman.

Das Buch, das June bzw. Athena verfasst hat, handelt vom Chinesischen Arbeitskorps im Ersten Weltkrieg. Natürlich (so sind die Zeiten) wird sie angefeindet, weil sie als Nicht-Chinesin angeblich kein Recht habe, eine solche Geschichte zu schreiben. Ganz so, als ob Chinesen andere Quellen zu Rate ziehen würden als Weisse. Als sie dann jedoch bei einer Lesung auf einen Mann trifft, dessen Onkel Teil dieses chinesischen Arbeitskorps gewesen ist, überkommen sie auf einmal Gefühle von Trauer und Unzulänglichkeit.

Eine Produktionsfirma aus Hollywood interessiert sich für eine Verfilmung, als plötzlich Angriffe auf Twitter erscheinen, die June des Plagiats an Athena bezichtigen. Ein Shitstorm entlädt sich. Wie die Autorin diesen schildert, macht wieder einmal deutlich, dass, was einmal im Internet landet, Gefahr läuft, sich unkontrolliert zu verselbständigen.

Wie geht man damit um, wenn man im Internet zum Hassobjekt wird? Das wird packend geschildert und nachvollziehbar gemacht. YELLOWFACE führt vor, wie abhängig wir von der digitalen Welt geworden sind und wie die gutgemeinten Ratschläge, wie man sich davon lossagen könnte, letztlich ins Leere laufen, weil die Abhängigkeiten in uns begründet sind und wir uns nun einmal nicht ändern wollen.

YELLOWFACE zeigt anhand der Verlagsbranche wie ausschliesslich Meinungs-bezogen die moderne Welt funktioniert. Kaum jemand informiert sich über die Fakten. "Der Grossteil der (an einem Shitstorm) beteiligten Account schert sich ganz offensichtlich nicht um die Wahrheit. Sie sind hier, weil sie Unterhaltung suchen. Diese Leute lieben es, ein Angriffsziel zu haben und sie würden alles auseinandernehmen, was man ihnen vorsetzt."

Das Internet bzw. die sozialen Medien, einst mit dem Versprechen angetreten, uns freier und unabhängiger zu machen, haben grösstenteils zum Gegenteil geführt: Kaum jemand traut sich noch zu sagen, was er oder sie wirklich denkt. 

YELLOWFACE, dieses packende, differenzierte und überaus treffendes Porträt der Verlagsbranche, ist gleichzeitig ein spannender Thriller wie auch ein überzeugendes Dokument des Zeitgeistes.

Fazit: Eine glänzend geschriebene, clevere, praktisch-philosophische Auseinandersetzung mit des Menschen grösstem Talent: Der Fähigkeit, sich selbst zu belügen.

Rebecca F. Kuang
YELLOWFACE
Eichborn, Köln 2025

Wednesday, 17 September 2025

Bruchstücke

Hans Joachim Schädlich, geboren 1935, ist gemäss der Zeit "einer der ganz Grossen in der zeitgenössischen deutschen Literatur". Und die Süddeutsche meint: "In Hans Joachim Schädlichs Prosa wird das 20. Jahrhundert entschlüsselt." Nichtssagender geht eigentlich kaum. Ich selber kenne sein Werk nicht; in diesem Erinnerungsbuch, so der Verlag, stehe "die Verknappung als Prinzip über allem."

Ich mag Bruchstücke, ziehe sie den sogenannt grösseren Zusammenhängen vor, die weit konstruierter sind als die konkreten, fassbaren, in sich geschlossenen Geschichten. Eine der ersten handelt von einer gelungenen Flucht von Ostberlin in den Westen. Clever und überraschend; eine eindrückliche Geschichte, schnörkellos erzählt, die nachhallt.

Um viele dieser Bruchstücke zu verstehen, ist es allerdings nötig, den weiteren Zusammenhang zu kennen. Da der Autor diesen voraussetzt, schliesst er Leser wie mich von Einigem ihm Bedeutsamen, wie ich vermute (sonst hätte er es wohl kaum aufnotiert), aus. Ich komme damit bestens klar.

Was den Autor zu dieser Auswahl von so völlig Disparatem bewogen hat, hat sich mir nicht erschlossen. Andererseits: Wer weiss schon, wie unser Gedächtnis funktioniert? Die Geschichten mit DDR-Bezug werden Leute mit einschlägigen Erfahrungen besser zu würdigen wissen als ich es vermag. Dass Günter Grass suggerierte, Geheimpolizeien in Demokratien und Diktaturen seien gleichzusetzen, führte zum Freundschaftsabbruch.

Ich lese Bücher auch zur Bestätigung. Die Lektüre von Bruchstücke bekräftigt unter anderem meine Abneigung gegenüber Günter Grass, Stefan Heym und Hans Mayer. Zu den für mich berührenden Menschen in diesem Werk gehört der warmherzige Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der den Autor aufklärt: "Du musst nicht gesund leben – du musst leben."

Ob es Hans Joachim Schädlich erlaubt sein würde, die DDR zu verlassen, hing lange Zeit in der Schwebe. Wie er diese Ungewissheit schildert, ist meisterhaft. Auch die von Angst und Schrecken geprägte DDR-Atmosphäre weiss er eindrücklich zu vermitteln. "Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, dass die Lage gefährlich war. Der Stasi schlug um sich, und niemand wusste, vor wem sie nicht haltmachte."

Befremdend fand ich hingegen das für meine Begriffe übermässige name dropping (also Selbstlob) sowie die Tatsache, wie unglaublich wichtig Schriftsteller sich nehmen. Andererseits: Uneitle Autoren sind eigentlich kaum vorstellbar.

Es ist eine eigenartige und deswegen faszinierende Zusammenstellung, die Hans Joachim Schädlich hier vorlegt. Das geht von Klatsch (zu Gast bei den Gettys in New York) über die wenig originelle Meinung eines New Yorker Taxifahrers zu Frauen bis zu literarischen Veranstaltungen in Moskau. Dabei zeigt sich auch, dass die Aufrichtigen und Anständigen unter den Literaten so dünn gesät sind wie beim Rest der Bevölkerung.

Ausnehmend gut gefallen hat mir das Nebeneinander von Banalem, Witzigem, und Aufklärendem, das ein womöglich realistischeres Bild des Autors vermittelt, als es die in eine Chronologie gepresste Version seines Lebens vermöchte. Als Einstieg sei "Deckname Wilhelm" empfohlen – aberwitziger geht kaum.

Hans Joachim Schädlich
Bruchstücke
Rowohlt, Hamburg 2025

Sunday, 14 September 2025

Der geträumte Norden

Der 1968 geborene Adwin de Kluyver, Autor und Historiker, berichtet in diesem Werk von Reisenden und Forschern, von Entdeckern und Träumern. Unter ihnen war auch der Mediziner Olof Rudbeck, Rektor der Universität von Uppsala, der neben Medizin auch Schiffbau und Feuerwerkstechnik unterrichtete. Eine Kombination, die in der heutigen Zeit der Spezialisierung, exotischer kaum wirken könnte.

Am Anfang seines Entdeckerdrangs standen die Atlanten, ganz unterschiedliche, die Adwin de Kluyver vom Norden träumen liessen. Von längst vergessenen Weltbildern erzählt er (und man fragt sich unwillkürlich, ob kommende Generationen unsere Weltbilder genauso belächeln werden wie wir diejenigen unserer Vorfahren), und von Lady Jane Franklin, die seit Jahren nichts mehr von ihrem Mann, Sir John Franklin, gehört hatte und sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben; und von seiner eigenen Erfahrung im höchsten Norden, als er eine Beinlänge vor dem Abgrund auf dem Rücken zu liegen kam.

Der geträumte Norden ist ein gelehrtes Werk, im klassischen Sinne: Es stützt sich darauf, was andere (angeblich) uns mitgeteilt haben. Adwin de Kluyver berichtet aus dem Jahre 325 v.Chr. vom damaligen Marseille, als sei er vor Ort gewesen, ebenso von Northumbria aus dem Jahre 635 n. Chr. Nicht, dass ich an seinen Ausführungen zweifeln will (er kennt sich aus, ich nicht), doch geht mir immer mal wieder Montaignes Diktum, wir seien bloss les interprètes des interprétations durch den Kopf.

Historiker verfügen über eine reiche Fantasie. Was die Menschen vor langer Zeit beschäftigt hat, können sie natürlich genau so wenig wissen wie wir anderen auch, doch die Gedanken, die sie sich dazu gemacht haben, orientieren sich an verbürgten Fakten, was sie liefern sind educated guesses, und die lohnen sich allemal.

Adwin de Kluyver ist ein begabter Erzähler und weiss auch viel Dramatisches zu berichten. Wie er etwa den Angriff eines Eisbären auf die etwa zwanzig Diamanten-hungrigen Matrosen am 6. September 1595 bei Stateneiland schildert, lässt einen gleichsam das Blut in den Adern gefrieren. Dass er dann allerdings zu wissen vorgibt, was ein Bär empfindet ( "Er spürte alle Kraft aus seinen Muskeln schwinden. Es wurde dunkel."), ist dann jedoch nichts anderes als Projektion. Natürlich weiss das der Autor, schliesslich heisst sein Buch Der geträumte Norden.

Auch den Leser verleitet die Erzählkunst Adwin de Kluyvers zum Träumen, denn dieser nicht zuletzt überaus lehrreiche Text löst ganz wunderbare Bilder in meinem Kopf aus. Und er macht mich auf gar viel aufmerksam, von dem ich keine Ahnung hatte. So wusste ich nicht, dass Grönland die grösste Insel der Welt ist, und dass sie bis vor einer halben Millon Jahren grün war, Genauso neu war mir, dass es im norwegischen Bergen pro Jahr nur gerade zehn trockene Tage gibt!

Von Roald Amundsen werden einige schon gehört haben. Doch nicht nur von ihm und seinem Geltungsdrang, den er mit dem Tod bezahlte, erfahren wir, sondern auch vom Journalisten Frans Schiphorst, der auf der Suche nach einem publizistischen Knüller auf Sjef van Dongen stiess und entschlossen war, diesen zum nächsten niederländischen Polhelden zu machen. Dabei wird auch deutlich, dass wir ohne Medienpropaganda von gar vielem überhaupt nichts wüssten.

Der geträumte Norden lehrt uns viel Aufschlussreiches. Etwa, dass der Jesuit Athanasius Kircher (1602-1680) die These vertreten hatte, "dass die Pest durch ein kleines Tierchen (einen Mikroorganismus) im Blutkreislauf hervorgerufen werde." Oder wie die Amerikaner ticken, was Adwin de Kluyver am Beispiel des Journalisten Walter Wellman illustriert. "Dass er keinerlei Erfahrung mit Polreisen hatte, kümmerte ihn nicht. Wir Amerikaner lamentieren nicht, wir packen die Dinge an, war sein Motto. Alles war käuflich, auch das Wissen über Polreisen."

Bücher laden ein zu Kopfreisen. Und Der geträumte Norden ganz besonders.
Unterhaltsame Aufklärung vom Feinsten!

Adwin de Kluyver
Der geträumte Norden
mare, Hamburg 2025

Wednesday, 10 September 2025

Literaturtipps für jeden Tag

Rainer Moritz, geboren 1958, leitete 20 Jahre das Literaturhaus Hamburg, Was er mit Das Jahr in Büchern. Literaturtipps für jeden Tag vorlegt, ist genau das, was der Untertitel verspricht. Dass seine Auswahl eine subjektive ist, versteht sich von selbst; dass sie recht nüchtern geraten ist (viel Begeisterung habe ich jedenfalls nicht herausgespürt), muss kein Nachteil sein. Nicht nur als Orientierungshilfe eignet sich diese Auswahl bestens, sie macht auch neugierig, wenn auch nicht auf Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 von Peter Handke, dem mit Abstand überflüssigsten Text in diesem Band.

"Die knappen – eine Seite pro Titel – Inhaltsangaben sollen Lust darauf machen, die eigenen Regale wieder einmal abzuschreiten oder Buchhandlungen, Antiquariate und Bibliotheken aufzusuchen." Ein Pädagoge also, der einem auch gleich noch sagt, was man alles tun soll! Ich selber habe mir meine eigenen Regale und mein Gedächtnis vorgenommen.

Richtiggehend entzückt hat mich, dass Autor Moritz auch Elf Freunde müsst ihr sein von Sammy Drechsel in seine 366 Literaturtipps aufgenommen hat, denn das war das allererste Buch, das ich richtiggehend verschlungen habe. Ich war damals fussballverrückt und von den Wilmersdorfern Schülern und ihren fussballerischen Vorbildern richtiggehend hingerissen.

Unter den in diesem Band empfohlenen gibt es etliche Werke, die ich in allerbester Erinnerung habe. Darunter Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan, das ausgesprochen sensibel von der Frage handelt, ob man einschreiten oder sich abwenden soll, wenn man mit Unrecht konfrontiert ist. Demon Copperhead von Barbara Kingsolver, einer dieser seltenen Romane, die einen mehr über das (Über)leben lehren, als Schule und Medien zusammen. Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara, das eindrücklich die menschliche Tragik in Worte fasst, dass wer andern helfen kann, häufig nicht in der Lage ist, sich selber zu helfen oder helfen zu lassen.

Von ganz vielen, der in diesem Band versammelten Werke kenne ich gerade einmal die Titel oder die Namen der Autorinnen bzw. der Autoren; von anderen hatte ich noch gar nie gehört, darunter auch von Vielleicht die letzte Liebe von Rainer Moritz selber, das auch davon handelt, dass "der tagtägliche Umgang mit dem Tod Bernard nicht zu einem depressiven, sondern zu einem gelassenen Menschen (macht), der mit der konfus gewordenen Welt besser zurechtkommt." Wunderbar! Wer darauf nicht neugierig wird, dem ist nicht zu helfen.

Ganz besonders zugesagt hat mir, dass der Autor sich nicht mit Genre-Grenzen aufgehalten hat, sondern quer durch den Garten Bücher empfiehlt. Von Krimis wie Nobels Testament von Liza Marklund zu Die Lady im See von Raymond Chandler zu Romanen von Richard Yates, Graham Swift sowie GB84, dem aussergewöhnlichen Zeitdokument von David Peace.

Auch Klassiker kommen übrigens nicht zu kurz. Das geht von Winternacht von Joseph von Eichendorff über Nicht nur zur Weihnachtszeit von Heinrich Böll zu Immensee von Theodor Storm. Zu erwähnen gehört aber auch eines meiner nachhaltigsten Leseerlebnisse überhaupt: Trauriger Tiger von Neige Sinno, von dem der Autor treffend schreibt, es sei "ein flammendes, nie um Mitleid heischendes Plädoyer für die Opfer und gegen die Verharmlosung der hemmungslosen Täter."

"Wer (Sarah Bakewells Café der Existenzialisten angenehm berauscht verlässt, fühlt sich klüger als beim Betreten    und gut unterhalten." Das trifft auch für Das Jahr in Büchern zu.

Rainer Moritz
Das Jahr in Büchern
Literaturtipps für jeden Tag
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 7 September 2025

nietzsche global

 
Das Vorwort bringt es so recht eigentlich auf den Punkt: "Ein anderer Name für Widerspruch ist Nietzsche. Nietzsche widersprach – den Erklärungen, mit denen die Menschen sich die Welt zurechtlegten, und er widersprach sich selbst."

Es gibt ganz viele Sätze in diesem mit grossem Genuss zu lesenden, überaus kenntnisreichen Vorwort, die man sich anstreichen sollte, darunter der wohl wichtigste: "Der Umgang mit Nietzsche, die Zitate, die man vor sich herträgt, sagen entsprechend weniger über diesen selbst als über die jeweiligen Fahnenträger aus." We do not see things as they are, we see things as we are, heisst es im Talmud.

Wunderbar, wie Elmar Schenkel das Wesentliche (zugegeben das für mich Wesentliche herausschält): "Nietzsches Rückführung des Denkens auf das leibliche, seine Bejahung des Lebens gegen alle Schwierigkeiten, sein eigenes, tragisches Leben bewegt Menschen mehr als die Frage, wo genau er in der philosophischen Tradition steht."

nietzsche global ist eine Schatztruhe; sagenhaft, was der Autor da alles zusammengetragen hat. Umso erstaunlicher, dass dieses hier präsentierte umfangreiche Wissen seinen Ausgangspunkt in Elmar Schenkels Museumsdienst gefunden hat. Da ich Museen generell mit Verstaubtem assoziiere und mir begeisterte Museumsbesucher ein Rätsel sind, tun mir diese Ausführungen Welten auf, nicht zuletzt, weil sie deutlich machen, dass sich in Nietzsche ganz offenbar etwas manifestiert hatte, das in vielen von uns schlummert. "Nietzsche spricht in das Innere des Menschen hinein, zu menschlichen Grundbedürfnissen; in diesem Sinne ist er 'spirituell'".

Was dieses Werk auch an zahlreichen Beispielen aufzeigt: Geschmäcker und Einstellungen können sich wandeln. Dazu kommt: kaum eine Bewegung, die nicht versuchte, Nietzsche zu vereinnahmen, von den belgischen anarchistischen Blättern bis zu den Nazis. Nietzsche als Selbstbedienungsladen? Andererseits: Geht es nicht allen so, die sich öffentlich äussern? Wäre Nichtbeachtung womöglich schlimmer? "Nietzsche leidet unter dem Desinteresse der intellektuellen Öffentlichkeit an seinen, wie er meint, bahnbrechenden Werken."

Gestaunt habe ich über die bunte Mischung an Nietzsche-Lesern, die hier zur Sprache kommen. Von Camus' Freundin Maria Casarès, die von der Nietzsche-Lektüre gepackt wurde, zu Osho, der den dionysischen Tanz, das amor fati, die Bejahung des Lebens und der Leiblichkeit hervorstreicht. Mit diesem Satz gehe ich hingegen gar nicht einig: "Obwohl Osho von vielen als Scharlatan wahrgenommen wird, sind seine Aussagen zu Nietzsche doch lesenswert. weil sie den Blickwinkel einer anderen Kultur freilagen." Nein, nicht deswegen, sondern weil Osho das Wesentliche an Nietzsche erfasst hat.

Selten ist mir deutlicher vor Augen geführt worden, dass man so ziemlich alles in einen Text bzw. in einen Menschen hineinlesen kann, Verwunderlich ist das nicht, denn begründen lässt sich bekanntlich alles. Und vielleicht liegt ja darin eines der wesentlichen Probleme unserer Existenz: Dass wir viel zu sehr dem Intellekt vertrauen, obwohl wir doch wissen, dass er uns immer mal wieder in die Irre führt. Doch das wäre eine andere Geschichte und nicht Thema dieses verdienstvollen, weil überaus anregenden Werkes.

Die Verbindungen, die Elmar Schenkel herzustellen weiss, setzt nicht nur eine imponierende Belesenheit, sondern auch ein aussergewöhnliches Talent voraus, zum Teil recht Disparates unter einen Hut zu bringen, schliesslich versammelt er nicht nur Anhänger von Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch deren Gegner.

Für mich entpuppte sich nietzsche global als bereichernde Entdeckungsreise, die mich einerseits einige Autoren in neuem Licht sehen liess ((G.K. Chesterton etwa), mich mit etlichen bekannt machte, die ich nicht kannte (ich verzichte auf Beispiele, es wären zu viele) und mir unter vielen anderen auch den mexikanischen Dichter Alfonso Reyes vorstellte, der seinem Freund Ureña aus der Dominikanischen Republik schrieb, "er habe sich zweieinhalb Tage lang der Lektüre von Die Geburt der Tragödie gewidmet, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Gedankenwelt durcheinandergewirbelt habe." So in etwa ist es mit einst mit Also sprach Zarathustra ergangen, das ich jetzt wieder hervorhole ...

Elmar Schenkel
nietzsche global
Im 80 Übermenschen um die Welt
Kröner Verlag, Stuttgart 2025

Wednesday, 3 September 2025

Tausend Worte um ein Bild zu verstehen

 Kaum war Saddam Hussein hingerichtet, waren auch schon Bilder seiner letzten Minuten zu sehen: zuerst die zensurierte Fassung, ohne Ton, im staatlichen irakischen Fernsehen, dann die unzensurierte, mit Ton, im Internet.

Als nach Ausstrahlung der Fernsehversion Stimmen laut wurden, die wissen wollten, es sei bei dieser Hinrichtung alles andere als anständig zugegangen — ganz so als ob der Tod durch den Strang anständig sein könnte — meldete sich der nationale irakische Sicherheitsberater und liess verlauten, Saddam Hussein sei vor, während und nach seiner Hinrichtung respektvoll behandelt worden — ganz so als ob jemanden zu hängen und Respekt so recht eigentlich zusammengehörten. Doch dann tauchten die Bilder, die einer der bei der Hinrichtung Anwesenden mit seinem Video-Handy aufgenommen hatte, im Internet auf und straften die Worte des nationalen irakischen Sicherheitsberaters Lügen, denn auf diesem Video war zu hören, wie Saddam Hussein beschimpft und verhöhnt wurde.

Die Reaktion der politisch Verantwortlichen war vorauszusehen: sie suchten nach demjenigen, der das Video gemacht hatte; die Reaktion der Massenmedien, vertreten durch CNN, war ebenso vorauszusehen: sie interviewten den nationalen irakischen Sicherheitsberater, der, wie ebenfalls vorauszusehen, auf keine der Fragen antwortete, sondern von Versöhnung etcetera schwafelte.

Sah man sich das Handy-Video im Internet an, war schnell einmal klar, dass es bei dieser Hinrichtung darum gegangen, worum es bei einer Hinrichtung immer geht: um Rache. Anders gesagt: hier konnte man sehen und hören, was Politiker und Massenmedien uns fast immer — es sei denn, es liesse sich propagandistisch ausschlachten — vorenthalten.

Die Massenmedien, so wird gemeinhin behauptet, hätten eine "gatekeeper"-Funktion, bestimmten also, was wir zu sehen und zu hören kriegen: unsere gefilterte Mediensicht der Dinge verdanken wir demnach — hoffentlich — verantwortungsbewussten und der Aufklärung verpflichteten Menschen, die in — häufig klimatisierten — Redaktionsstuben auf der ganzen Welt das sogenannte "agenda-setting" betreiben. Mit andern Worten: uns sagen, womit wir uns gefälligst zu befassen hätten. Und die Medienverantwortlichen sind sich einig, was unsere Aufmerksamkeit verdient: auf allen Kanälen werden, weltweit, dieselben Prioritäten gesetzt.

Vor dem Internet und den Handy-Videos galt für die Massenmedien, was der Schweizer Kabarettist César Kaiser einmal am Beispiel der Polizei illustrierte. Die Polizei sei ein enorm "Gruppen förderndes" Organ: entweder es bildeten sich Gruppen, weil sie auftauche oder sie tauche auf, weil sich Gruppen bildeten. Ähnliches liesse sich für die Medien sagen: sie tauchen auf, weil etwas vorgefallen ist oder es wird etwas inszeniert, weil die Medien auftauchen. Das gilt nach wie vor, doch es gilt heutzutage etwas weniger, weil, Dank der Technik, jeder und jede, hier und jetzt, zum Medienproduzenten werden kann. Mit anderen Worten: die "gatekeeper"-Funktion, und damit die Macht der traditionellen Nachrichten-Produzenten, scheint zunehmend in Auflösung begriffen.

Seit es das Internet gibt, können wir sehen, was wir sehen wollen. Also hauptsächlich Pornografie, nach wie vor der Motor des Internets, oder eben die Bilder von Saddams Hinrichtung, die wieder einmal eindrücklich gezeigt haben, wie leicht Bilder ohne Ton zu Propagandazwecken benutzt werden können.

Ein Foto, um verstanden zu werden, muss im Kontext gesehen werden. Wenn ich nicht weiss, wer Saddam Hussein ist, werden mir die paar verwackelten Videobilder nicht viel sagen. Wer ist der Mann also, was ist der Kontext? Nun ja, der Kontext ist immer konstruiert und abhängig davon, was die Menschen glauben: für seine Anhänger ist Saddam ein anderer als für seine Gegner. Jeder baut sich also seinen eigenen Kontext, ganz nach Belieben? Klar doch, obwohl: es gibt Fakten. Und diese sehen, im Falle von Saddams Hinrichtung, so aus, dass er verhöhnt und beschimpft wurde, als ihm der Strick um den Hals gelegt und er zu Tode gebracht wurde.

Pressefotos ohne Bildlegenden können nur schwer verstanden werden und so recht eigentlich ist der Begleittext zum Bild meist wesentlicher als das Bild selbst. Ein Beispiel: ein älterer Mann und eine ältere Frau sitzen sich an einem Tisch in einer Cafeteria gegenüber. Er liest die Zeitung, sie tunkt ein Hörnchen in ihre Kaffeetasse. Die Bildlegende sagt: eheliches Zusammensein nach zwanzig Jahren Verheiratetsein. Manche Verheiratete mögen jetzt denken: Ja, so isses; andere werden sagen: also nein, bei uns ist das überhaupt nicht so; und noch einmal andere werden womöglich einfach grinsen und hoffen, bei ihnen werde es mal nicht so weit kommen. Doch aufgepasst: das Foto zeigt nichts dergleichen, denn ein Foto kann das, was diese Bildlegende suggeriert, gar nicht zeigen. Was unsere Augen wahrnehmen und was der Text zum Bild sagt, dass wir sehen sollen, hat in diesem Fall — und in vielen anderen Fällen — überhaupt nichts miteinander zu tun. Es kann nämlich gut sein, dass der Mann und die Frau gar nicht verheiratet sind, und es kann ebenso gut sein, dass sie gerade bevor (oder nachdem) der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hat, miteinander geredet haben. Mit anderen Worten: ein Bild sagt keineswegs mehr als tausend Worte, vielmehr brauchen wir tausend Worte, um überhaupt zu verstehen, was wir eigentlich anschauen — erst dann, wenn wir wissen, was wir vor Augen haben, kann uns ein Bild mehr als tausend Worte sagen.

Was für Fotos gilt, gilt ebenso für Videos — wir können nur sehen, was wir wissen. Weshalb wir denn auch immer auf die Geschichte zu den Bildern angewiesen sind. Und da es fast nie nur eine Geschichte, sondern meist mehrere — und möglicherweise voneinander abweichende — Geschichten zu einem Bild gibt, ist ein wirkliches Bilder-Verstehen nur möglich, wenn wir angemessen — also über verschiedene Kontexte — informiert sind.

Angesichts der Tatsache, dass das digitale Zeitalter, auch die Bildermanipulation, die es schon immer gab, leichter gemacht hat, erstaunt es nicht wenig, wie sehr wir Bildern vertrauen — wir halten Bilder grundsätzlich für wahr, so lange jedenfalls, bis jemand das Gegenteil beweist.

Doch wie kommt es eigentlich, dass wir Bildern mehr zu trauen scheinen als Worten? Möglicherweise, weil wir Lügen eher mit Worten und nicht so sehr mit Sehen verbinden. "Seeing is Believing" heisst es bekanntlich — auch wenn das Gegenteil oft genauso wahr ist, wir also vielfach sehen, was wir sehen wollen — und meint nicht zuletzt: man kann mir viel erzählen, doch glauben werde ich nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Dazu kommt, dass fotografische Evidenz bedeutet, dass das, was sich im Augenblick der Aufnahme dem Kameraauge präsentiert hat, auch so existiert hat. Man kann das Foto von einem Bleistift ganz verschieden interpretieren, je nachdem, welche Bedeutung man dem Bleistift beimisst, ob er in einer Kultur mehr oder weniger verbreitet ist, etcetera, etcetera, doch ein solches Foto wird generell als Beweis akzeptiert, dass dieser Bleistift so zur Zeit der Aufnahme existiert hat.

Je mehr die Bilder die Medienwelt dominieren, desto notwendiger wird es, sich mit der Sprache der Bilder beziehungsweise dem Bilder-Lesen auseinanderzusetzen. Das meint: Bilder gehören befragt. So zum Beispiel: Warum hat die kleine Kim Phuc auf dem berühmten Foto von Nick Ut aus dem Vietnamkrieg keine Kleider an? Der Bub neben ihr ist doch angezogen. Und warum rennen die Kinder und die Soldaten hinter ihnen nicht? Was ist überhaupt passiert? Und wo?

Solche Fragen stellen Kontext her und machen ein Bild erst verständlich, denn es sind die Informationen zum Bild (und nicht das Bild), die unsere Wahrnehmung bestimmen. Im Falle des Fotos von Nick Ut: Ein Flugzeug hatte gerade Napalm abgeworfen und der kleinen Kim Phuc die Kleider versengt. Mit dieser Information beginnen wir zu erahnen, was damals vorgefallen ist. Zudem: wenn wir jetzt noch erfahren, dass es sich um einen Akt von "friendly fire" handelte, "sehen" wir bereits wieder ein anderes Bild. Und mit jeder weiteren Frage wieder ein neues Bild beziehungsweise neue Bilder.

Und so gilt denn: Damit ein Bild uns mehr als die berühmten tausend Worte sagen kann, brauchen wir zuerst (fast) tausend Worte, die uns erklären, was wir vor Augen haben.

2007 © Hans Durrer / 2007 © Soundscapes