Saturday 3 April 2010

Hans Ulrich Kempski berichtet

Journalismus, wie ein geflügeltes Wort sagt, sei "the first draft of history" und der Journalismus von Hans Ulrich Kempski ist noch ein bisschen mehr, nämlich ein ziemlich ausgereifter Entwurf, der den Historikern nicht nur die Arbeit leicht macht, sondern sie ihnen so recht eigentlich abnimmt. Das liegt daran, dass Kempski ein ungemein genauer, ja detailbesessener Beobachter ist, der es bestimmt auch als Buchhalter weit gebracht hätte, allerdings wäre er da wohl kaum auf seine Kosten gekommen. Und das meint: es ist ziemlich auffällig, dass der Journalist Kempski die Nähe der sogenannt Mächtigen sucht und sich ohne diese wohl ziemlich gegrämt hätte.

Doch zurück zum Markenzeichen Kempskis, der Detailgenauigkeit. Im Epilog wird er von SZ-Journalisten anlässlich seines 80. Geburtstags damit konfrontiert:

SZ: Sie sind dafür berüchtigt, Aschenbecher, Fenster und Lampen gezählt zu haben.
Kempski: Damals gab es noch kein Fernsehen. Mein Ziel war es, die bis dahin sehr undurchsichtige Politik, die in der Zeitung ja nur Platz hatte in den Nachrichten oder auf den Meinungsspalten sichtbarer zu machen.

Na ja, eine richtige Frage war dies ja nicht, also braucht man sich auch nicht wundern, wenn man keine richtige Antwort kriegt. Doch um ein Beispiel der Kempski'schen Detailgenauigkeit zu geben:
"Es ist am frühen Dienstagabend, zehn vor sechs Uhr. Der völkerverbindende Staatsakt hat fünf Minuten gedauert. Er findet statt in der Salle Murat des Elysée-Palastes, einem fensterlosen, schmalen Repräsentationsraum, der fünf monströse Kristalllüster mit glänzendem Licht erhellen, das verstärkt wird durch den Widerschein aus fünf bis zur Decke reichenden Spiegeltüren. Die crèmefarbenen Wände sind verziert mit vergoldeten Blattornamenten. Das Mobiliar beschränkt sich auf einen mit rotem Samt bespannten ovalen Tisch sowie fünf darum gruppierte Sessel, deren Sitz- und Rückenpolster mit Jagdmotiven bestickt sind. Drei der Sessel haben Lehnen. In der Mitte nimmt de Gaulle Platz, Adenauer sitzt rechts von ihm, Premierminister Pompidou zur Linken. Die beiden Aussenminister, Schröder und Couve de Murville, sind etwas auf Distanz dahinter platziert. Ihre Sessel haben keine Lehnen." (aus: Der Bruderkuss im Elysée, 1963).

Das ist nicht nur genau und wunderbar anschaulich, das ist fast besser abgebildet als es eine Kamera vermöchte. Keine Frage: Kempski ist ein Meister der Bildbeschreibung. Andrerseits, seine Genauigkeit ist keine um der Genauigkeit Willen, sondern eine, welche die Basis dafür bildet, was man im Englischen "educated guesses" nennt. Hier ein Beispiel:

"Was sind das für Menschen auf Zypern, was nährt ihre Hassgefühle? Reine Griechen und echte Türken sind sie meist nicht. Fremde Eroberer haben das Blut der Insulaner aufgefrischt, haben eine ganz spezielle levantinische Mischung geschaffen. Sie wäre wohl längst im Schmelztiegel einer zypriotischen Nation aufgegangen, hätten nicht zwei verschiedene Religionen eifersüchtig darüber gewacht, dass die das Inselvolk spaltende Grenze des Glaubens und damit auch die der Sprache erhalten bleibt. Rein äusserlich sind die zypriotischen Griechen und Türken nicht voneinander zu unterscheiden. Ihre Manieren wurden durch das englische Vorbild geprägt. Die Zyprioten beider Volksgruppen kleiden sich gleich, haben die gleiche Freude am Tavli-Spiel, schwemmen sich voll mit dem gleichen dicken Gebräu, das sie Kaffee nennen. Und alle neigen der gleichen grandiosen Selbstüberschätzung zu, die sie verführt, die Ereignisse der Welt ausschliesslich unter dem Blickpunkt ihrer Auswirkung auf Zypern auszudeuten. Weder Europa noch dem Orient eindeutig zugehörig, sind die Zyprioten auf der Suche nach ihrer Identität. Vielleicht ist darin ein Element von Schizophrenie zu sehen, das zur Gewalttätigkeit neigt."

Das ist gekonnt, diese überlegte und komponierte Mischung von Beschreibung, Analyse und Umsetzung von Einfühlungsvermögen, auch wenn der Hinweis auf eine mögliche Schizophrenie medizinischen Kategorien wohl kaum standhalten würde.

Das vorliegende Werk ist voll solcher Geschichten. Ein rundum empfehlenswertes Buch also. Nur einen kleinen Einwand gibt es, doch vielleicht ist es ja gar keiner: Es ist schwierig aus dieser Geschichtenfülle aus fünf Kontinenten (wo war dieser Reporter eigentlich nicht dabei?) ein Buch zusammenzustellen, doch anstelle einer ziemlich willkürlichen Gliederung in Themen (wobei innerhalb der einzelnen Kapitel chronologisch vorgegangen worden ist), wäre möglicherweise ein simple zeitliche Staffelung sinnvoller gewesen.

Doch zurück zum Journalismus als dem "first draft of history". Es gibt Geschichten in diesem Band, da wähnt man sich fast physisch anwesend (etwa bei: Die Nation hält Totenwache. 1963), so wirklichkeitsnah sind sie geschildert. Es ist zu hoffen, dass Historiker Kempskis Reportagen weder als Entwürfe noch als Vorlagen verstehen, sondern als das, was sie sind: Grossartige Geschichtsschreibung.

Hans Ulrich Kempski berichtet
Grosse Reportagen eines legendären Journalisten
Herausgegeben von Gernot Sittner
Süddeutsche Zeitung Edition, München 2009

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