Wednesday 19 October 2016

Steve McCurry: Lesen

Real Gabinete Português de Leitura, Rio de Janeiro, Brasilien

Steve McCurry hat sich in diesem Band nicht, wie der Titel suggeriert, dem Lesen gewidmet, sondern den Lesenden. Genauer: Er hat Menschen über mehrere Jahrzehnte hinweg beim Lesen fotografiert. Ein überzeugender, ja, ein toller Ansatz, finde ich (weil ich aus Büchern viel gelernt habe und lerne), der verblüffende Resultate liefert, denn Menschen lesen offenbar liegend, stehend, sitzend, kniend, kauernd, ja, so recht eigentlich lesen sie in so ziemlich allen Lebenslagen. Und allüberall auf der Welt.
Rom, Italien

In seinem schönen Vorwort berichtet Paul Theroux von seinen Erfahrungen als Leser – viele davon teile ich, zum Beispiel diese hier: "Ohne es jemals so beabsichtigt zu haben, ist das, was ich gelesen habe, eine Möglichkeit, mich daran zu erinnern, wo ich gewesen bin, denn für mich ist das Lesen eines speziellen Buches mit ganz spezifischen Orten verknüpft." Sofort schiesst mir Ayn Rands "The Fountainhead" durch den Kopf, auf Ibiza war das, vor ganz vielen Jahren, doch immer noch ist mir höchst präsent, wie ich sogar während ich auf den Bus zum Strand wartete, nicht davon ablassen konnte. Ähnlich intensiv erlebte ich auch "Krieg und Frieden" im chinesischen Quanzhou.
Bentota, Sri Lanka

Die Kamera sei ein Instrument, welches sie das Sehen ohne Kamera lehre, meinte Dorothea Lange einmal. Eine ganz wunderbare Illustrationen dieser These ist die Aufnahme aus Bentota, Sri Lanka, bei der mir, wüsste ich nicht, dass es dem Fotograf darum zu tun war, das Lesen abzubilden, womöglich ganz anderes als die lesende junge Frau aufgefallen wäre, obwohl sie doch im Zentrum des Bildes steht. Und in der Tat registrierten meine Augen zuallererst den Elefanten, dann das Meer, gefolgt vom schwimmenden jungen Mann und schliesslich vom Kellner. Wobei: ich kann nicht wirklich sagen, wie und was meine Augen in welcher Reihenfolge wahrnehmen; ich interpretiere dies im Nachhinein. Genauso verfahre ich mit der Absicht des Fotografen, von der ich gar nicht wissen kann, ob er wirklich die lesende Frau im Fokus hatte oder ob er dies erst im Nachhinein entdeckte.
Goa, Indien

Lesen sei eine ernste Angelegenheit, notiert Paul Theroux, und erfordere "geistige Anstrengung, Konzentrationsfähigkeit, eine wache Neugier und Intelligenz, und ausserdem muss man auch allein sein können (...) doch einsam oder gelangweilt sind Leser selten, denn Lesen ist eine Zuflucht und eine Erleuchtung, eine Erfahrung, die zuweilen offen zutage tritt."
Chiang Mai, Thailand

Es ist ungemein anrührend diese so ganz unterschiedlichen Momente tiefsten Für-Sich-Seins, das sich darin äussert, dass man sich selber vergessen zu haben scheint, zu betrachten. Selten fand ich Steve McCurrys Aufnahmen überzeugender komponiert und gelungener zusammengestellt als in diesem Band.

Steve McCurry
LESEN
Eine Leidenschaft ohne Grenzen
Mit einem Vorwort
von Paul Theroux
Prestel Verlag, München/London/New York 2016

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