Jeder Moment ist Ewigkeit ist ein Titel, der sich auch für ein Selbsthilfebuch eignen würde. Dass er auch für das Buch einer Fotojournalistin passt, macht deutlich, dass unsere Zuordnungen willkürlich sind und dass, was in einem Kontext gilt, oft auch in einen anderen passt, vorausgesetzt, man ist bereit zu sehen, dass die Grundfragen in allen Bereichen und gestalteten Zusammenhängen eigentlich immer dieselben sind. Konkret: Im Spirituellen wie in der Philosophie, in der Biologie wie in der Fotografie gilt: Jeder Moment ist Ewigkeit – und natürlich auch das Gegenteil.
Lynsey Addario hat ihre Arbeit oft in Krisengebiete und damit auch in gefährliche Situationen geführt. "Nach einigen Tagen auf der einsamen Wüstenstrasse stiess eines Morgens plötzlich ein Kampfhubschrauber auf uns herab. Im Tiefflug nahm er alle wahllos unter Beschuss und überzog uns mit einem Maschinengewehrhagel. Die verstreute Schar der Aufständischen erwiderte sein Feuer mit ihren Kalaschnikows." Das war in Libyen gewesen, im März 2011.
Von Robert Capa ist der entsetzlich blöde Satz überliefert: "Wenn deine Fotos nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran." 1954 trat er in Vietnam auf eine tödliche Landmine. Lynsey Addario zitiert den Satz und stimmt ihm zu, fügt jedoch bei. "Doch wenn man nah genug dran war, war man in der Schusslinie. In jener Woche sah ich, wie einige der besten Fotografen, Leute, die in Tschetschenien, Afghanistan und Bosnien gearbeitet hatten, aufgaben, nachdem die ersten Bomben gefallen waren." Sie bleibt, trotz eigener Zweifel. Bei diesem Aufstand dabei zu sein, gibt ihr ein Hochgefühl.
Lynsey ist 13 Jahre alt, als sie von ihrem Vater ihren ersten Fotoapparat geschenkt bekommt. Sie ist damals zu schüchtern, um ihre Kamera auf Personen zu richten und nimmt stattdessen Blumen, Friedhöfe und menschenleere Landschaften auf. Später studiert sie an der University of Wisconsin in Madison Internationale Politik. Während eines Auslandjahres an der Universität von Bologna entdeckt sie das Reisen. "Je mehr ich reiste, desto mehr sehnte ich mich nach einem Leben als Reisende."
Nach dem Studienabschluss macht sie in New York ein Praktikum bei einem Modefotografen und arbeitet abends als Kellnerin. Mit dem gesparten Geld macht sie sich auf nach Buenos Aires. Sie will Spanisch lernen und Südamerika bereisen. "Die Fotografie gab meinem Reisen einen Zweck."
Bei einer Salgado-Ausstellung wird ihr plötzlich bewusst, "was ich wollte: mit Fotos die Geschichten von Menschen erzählen, ihrer Menschlichkeit so wie Salgado gerecht werden, und beim Betrachter dasselbe Mitgefühl wecken, das ich im Augenblick der Aufnahme empfand. Ich bezweifelte, dass ich je imstande sein würde, solchen Schmerz und solche Schönheit einzufangen, aber meine Leidenschaft war geweckt. Ich ging durch die Ausstellung und weinte."
In New York gibt ihr die AP (Associated Press) regelmässig Arbeit. Ein Fotograf namens Bebeto, der an den Wochenenden als Bildredakteur arbeitet, wird ihr Mentor. "Er erklärte mir, wie man in einem Raum am Fenster oder an einer leicht geöffneten Tür nach dem Licht sucht. Er lehrte mich Komposition. Er zeigte mir, wie man den Kamerasucher nicht nur mit dem Gegenstand, sondern auch mit wichtigen Kontextinformationen füllt, um das Bild an seinem Ort zu verankern."
Es sind unter anderem solche Sätze, die mir dieses Buch wertvoll machen. Anders gesagt: Jeder Moment ist Ewigkeit ist auch wesentlich ein Buch über das Fotografieren. Aber ist das nicht selbstverständlich bei einer Fotojournalistin? Ist es nicht ...
Sie erkundigt sich bei AP, ob es in Südasien Arbeit für sie gebe, macht sich nach Indien auf. "Ich fragte mich nicht, ob es ein Fehler gewesen war, nach Indien zu gehen. Ich hatte das Gefühl, in New York mein Leben vergeudet zu haben."
Jeder Moment ist Ewigkeit bietet einen anderen als den üblichen Medien-Blick auf die Krisengebiete der letzten Jahre, weil Addario auch die Bedingungen schildert, unter denen ihre Bilder entstehen. Etwa wie sie in Pakistan, umgeben von Hunderten enthemmter Männer, das war nach 9/11, bei Protestkundgebungen gegen die US-Regierung aggressiv attackiert wurde (ich fühlte mich an die Silvester-Übergriffe in Köln erinnert) oder wie schwierig es ist, Menschen zu fotografieren, zu deren Leben man mangels fehlender Sprachkenntnisse oder aufgrund von Verboten, keinen wirklichen Zugang hat.
Lynsey Addarios spannende, lehrreiche, inspirierende und mit zahlreichen Fotos illustrierte Geschichte ist die Pressebild-Aufklärung, die wir nötig haben und leider viel zu selten ist.
Lynsey Addario
Jeder Moment ist Ewigkeit
Als Fotojournalistin in den Krisengebieten der Welt
Econ Verlag, Berlin 2016
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