Dreissig Jahre lang hatte Hisham Matar das Land seiner Kindheit nicht mehr betreten, als er sich im März 2012 zusammen mit seiner Frau und seiner Mutter nach Libyen aufmacht, um herauszufinden, was mit seinem Vater geschehen ist, der in Gaddafis Gefängnissen verschwunden war. "Mutter wusste, dass mein Wille, herauszufinden, was geschehen war, zu einer Obsession geworden war."
Hishams Vater, Diplomat, Politiker und Widerstandskämpfer gegen Gaddafis Regime, war im März 1990 vom ägyptischen Geheimdienst aus seiner Kairoer Wohnung entführt und an Gaddafi ausgeliefert worden (der Klappentext spricht fälschlicherweise davon, dass der libysche Geheimdienst ihn im Kairoer Exil mitten auf der Strasse entführt habe).
Vor allem beschäftig den Sohn, wie es seinem Vater in den ersten Tagen, ja, den ersten Stunden der Gefangenschaft ergangen ist. Bei seinen Nachforschungen stösst er jedoch auch immer wieder auf kulturelle Eigenheiten, die seiner Wahrheitssuche entgegen stehen. "Als Erregung und Nervosität nichts zu sagen übrig liessen, taten wir, was die meisten Leute tun und worin die libysch-beduinische Gesellschaft besonders gut ist: Wir wiederholten die höflichen, unpersönlichen Allgemeinplätze und Fragen, die, so verlangt es die Etikette, nicht zu spezifisch sein dürfen, wobei der Hauptzweck darin liegt, dem aus dem Weg zu gehen, was die männlichen Mitglieder meiner Familie väterlicherseits stets sorgfältig vermeiden: Einmischung und Klatsch."
In Libyen waren Geschichten im Umlauf, "die zu abstrus wirkten, als dass man sie glauben konnte", doch die sich als wahr erwiesen. So sollten sich etwa unter dem Gelände des militärischen Komplexes in Tripolis, in dem Gaddafi sich aufhielt, Gefängnisse befinden, in denen die heftigsten Widersacher des Dikatators eingesperrt waren, denn er "hatte seine grössten Gegner gerne nahe bei sich, um sie sich von Zeit zu Zeit ansehen zu können, die Lebenden wie die Toten. Gefriertruhen mit Leichen lange verstorbener Dissidenten wurden gefunden."
Die Rückkehr findet in der Zeit nach Gaddafis Sturz und vor dem neuen Bürgerkrieg statt und beschert dem 42jährigen Hisham Matar auch ein recht aufreibendes Familienbesuchsprogramm. Er hat zwar nur einen Bruder, jedoch einhundertdreissig Cousins und Cousinen, die alle besucht werden wollen. Sein Onkel Mahmoud (geboren 1955), der jüngste Bruder seines Vaters (geboren 1939) verbrachte einundzwanzig Jahre in Abu Salim, dem berüchtigsten Gefängnis des Landes, und erweist sich als eine wichtige Informationsquelle. Er war auch ein grosser Leser, der immer wieder bestimmte Einzelheiten aus den Brüdern Karamasow, Candide oder Madame Bovary zitierte, "was er aus dem gleichen Grund heraus tat, der freie Menschen ein Buch erneut lesen lässt: um den Genuss zu wiederholen und zu vertiefen."
Für mich, der ich so ziemlich gar keine Vorstellung von Libyen habe, ist Die Rückkehr eine höchst aufschlussreiche Lektüre. Und das hat nicht zuletzt mit den vielen Anekdoten zu tun, die Hisham Matar erzählt. So war etwa sein Vater Bayern München-Fan und wenn er ausser Haus war, nahm die Mutter die Spiele auf, auch die Fussballübertragungen im Radio, einschliesslich der zweiten ägyptischen Liga, sogar nachdem er entführt worden war. Die mir liebste Anekdote ist diese hier: "Ein achtzehnjähriger arabischer Muslim betete in einem englischen Pub für eine schottische Mannschaft, weil sie einen möglicherweise aus Afrika stammenden schwarzen Spieler hatte, während die libysche Familie des Muslims im Exil in Kairo die deutsche Mannschaft anfeuerte."
Da Hisham Matar ein belesener Mann ist, kommt auch Literarisches nicht zu kurz. So zitiert er etwa Jean Rhys: "Nie würde ich zu irgend etwas gehören. Nie würde ich wirklich irgendwohin gehören, und das wusste ich, und mein ganzes Leben lang würde es nie anders sein - ich würde versuchen, irgendwohin zu gehören, und dabei scheitern. Immer würde irgend etwas schiefgehen. Ich bin eine Fremde und werde es immer bleiben, und im Grunde genommen machte es mir so gut wie nichts aus." Er kommentiert das Zitat wie folgt: "Als ich diese Zeilen von Jean Rhys zum ersten Mal las, dachte ich, ja, und dann, fast sofort, ärgerte ich mich über dieses Einverständnis. Deshalb ist die Rückkehr in jenes frühere Leben wie das Entdecken eines Spiegelbildes an einem öffentlichen Ort. Deine erste Reaktion, noch bevor du es begreifst, ist Argwohn. Du kommst aus dem Tritt, findest aber gerade noch rechtzeitig das Gleichgewicht wieder."
Er soll in der Bibliothek auftreten, ein Gespräch vor Publikum. Ein alter Mann aus dem Publikum stellt sich als Freund seines Vaters vor und übergibt ihm Kurzgeschichten, die dieser geschrieben hatte. "Ich wusste zwar von den Versuchen meines Vaters, Gedichte zu schreiben, hatte aber nicht geahnt, dass er sich als Student in Paris auch in Prosa versucht hatte." Auch erfährt er erst von Fremden, dass seine Mutter Mütter von politischen Gefangenen bei sich aufgenommen hatte.
Die Rückkehr informiert auch über die Verbindungen des britischen Establishments mit Gaddafi sowie über die Besatzung Libyens durch die Italiener, die 1911 ins Land kamen und jeden sechsten Bewohner der Hauptstadt auf kleine Inseln rund um Italien, zum Beispiel die Tremiti-Inseln, Ponza, Ustica und Favignana, verschleppten. "Das Land sollte entvölkert werden. Die Geschichte erinnert sich an Mussolini als den clownesken Faschisten, den wirkungslosen, tumben Italiener, der im Zweiten Weltkrieg kaum überzeugte; in Libyen verantwortete er einen Genozid."
Gegen Ende des Buches wähnt man sich plötzlich in einem veritablen Thriller. Nach neunzehn Jahren des Stocherns im Nebel, meldet sich ein Mann telefonisch bei Hisham – er habe seinen Vater gesehen, im Jahre 2002. "Noch nie hatte jemand behauptet, meinen Vater nach 1996, dem Jahr des Massakers gesehen zu haben. Wenn das stimmte ...". Der britische Aussenminister David Miliband und Gaddafis Sohn Saif al-Islam kommen ins Spiel ...
Die Rückkehr ist ein bewegendes Buch.
Hisham Matar
Die Rückkehr
Auf der Such nach meinem verlorenen Vater
Luchterhand Verlag, München 2017
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