Wednesday, 27 November 2019

Die Neuerfindung der Diktatur


Im Jahre 2002 habe ich während eines Semesters in der chinesischen Provinz Fukkien Englisch unterrichtet. Als ich in die Schweiz zurückkehrte, meinte mein langjähriger Coiffeur, mir fielen die Haare aus. Vor Ort in China war mir das nicht aufgefallen, dort hatte ich nur bemerkt, dass ich manchmal unter Schwindel litt, mich allgemein angeschlagen fühlte und häufig Angst empfand. Erst im Nachhinein begriff ich das alles als Ausprägungen eines beklemmenden, tief liegenden Unwohlseins, das auch dadurch befördert wurde, dass man in China ständig überwacht wird. Auf dem Campus, im Klassenzimmer, aber auch bei Ausflügen in die benachbarte Stadt.

Daran erinnerte ich mich unter anderem, als ich Kai Strittmatters Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert las. Wie soll die westliche Welt den zunehmend autoritären Tendenzen der KP Chinas begegnen? „Man sollte die Menschen hinauswerfen in die grosse, ungemütliche Welt, man müsste die Weltenschau zur Pflicht machen für all die arglosen Europäer, alle sollten sie einmal ein Jahr ausserhalb ihrer Gemütlichkeitszone leben. Man könnte sie in die Türkei schicken, wo sich die Demokratie in rasender Geschwindigkeit zerlegt. Oder nach Russland, auch dort sind Zynismus und Lüge längst zur Staats- und Lebensräson geworden (...) Am besten aber schickte man sie nach China. In China nämlich stünde den Menschen dann auch noch der Mund offen angesichts des Ehrgeizes, des Tempos und des Zukunftsglaubens, angesichts des gnadenlosen Wettstreits aller mit allen und der durch nichts gezügelten Lust auf Reichtum und Macht. Ein Treiben ist das, das den Leuten den Atem nähme, das sie aber hoffentlich auch aufschreckte aus Trägheit und Ignoranz.“

Mir gefallen diese Gedanken auch deshalb so gut, weil ich generell der Auffassung bin, dass eine Konfrontation mit der Realität das Ernüchterndste, Heilsamste und Sinnvollste ist, das der Mensch in seinem Erdendasein tun kann – auch wenn es das so ziemlich Letzte ist, worauf er Lust hat.

Kai Strittmatters Die Neuerfindung der Diktatur ist weit mehr als der Untertitel Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert besagt – es ist ein erfreulich nüchterner Blick auf die (hauptsächlich politische) Welt, der den westlichen Gesellschaften zu Recht vorwirft, naiv zu sein. Nicht nur der Westen behauptet frei, demokratisch und rechtsstaatlich zu sein, China tut das auch. Und natürlich lügen beide, denn die westliche Demokratie des Geldes und die diktatorische Version Chinas haben beide mit echter Volksherrschaft recht wenig zu tun. Klar, es gibt Unterschiede, wesentliche, doch dass der Westen die eigenen Demokratien nicht realistisch sieht, ist keine gute Voraussetzung, China realistisch zu sehen.

Realistisch ist Strittmatters Sicht auf die Macht. „Es liegt im Wesen der Macht, dass sie, egal wie stark, ihrer selbst nie vollkommen sicher ist. Die Paranoia, die Angst vor der Schwächung und dem Verlust seiner Macht liegt in der Natur des Mächtigen. Deshalb sein Drang, die Masse immer wieder aufs Neue zu überwältigen. Dazu dient ihm die Lüge.“

Herrschaftsausübung läuft auch über die Sprache, George Orwell lässt grüssen. So wird etwa „harmonisch“ besonders oft gebraucht in China. Die Harmonie, die die Partei im Sinn hat, „ist die Harmonie zwischen Partei und Gehorsam. Harmonie ist, wenn das Volk Ruhe gibt.“

Internet-Zensur funktioniert nicht, glauben viele, vor allem im Westen, denn jede Mauer lässt sich durchbrechen. Nur eben: China zeigt gerade, dass sie funktioniert und demonstriert, wie die Lüge über die Wahrheit triumphiert.

Die kommunistische Partei verfügt über das Gewaltmonopol (und nicht etwa der Staat), obwohl im kapitalistischen China so ziemlich gar nichts kommunistisch ist. „Viele der Probleme Chinas kommen daher, dass der gelebte Kapitalismus als Sozialismus gepredigt wird“, schrieb 2013 der Intellektuelle Rong Jian, „den das Massaker von 1989 vom Marxismusforscher zum Kunstgaleristen hat werden lassen.“

Lügen, Einschüchterung, Verwirrung – die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge soll abgeschafft werden. Strittmatter zitiert Hannah Arendt: „Wenn jeder dich immerzu anlügt, dann ist die Folge nicht, dass du die Lügen glaubst, sondern vielmehr, dass keiner mehr irgendetwas glaubt.“

In China herrscht ein totalitäres Regime, dass die Digitalisierung nutzt – je mehr die Menschen digital unterwegs sind, je mehr weiss das System über sie – , um noch totalitärer zu herrschen. Die chinesischen Kommunisten sind Meister darin, Angst zu verbreiten. Wer nicht spurt, wird abserviert und an  den Pranger gestellt. Der bestens informierte Kai Strittmatter zeigt das in diesem Buch an zahlreichen Beispielen. Er macht zudem deutlich, dass die westliche Sicht auf China weitestgehend naiv ist.

Es geht auf der Welt nicht nur um Einfluss und Vorherrschaft, es geht den politisch Mächtigen um Unterwerfung. Und China hat nicht die geringsten Hemmungen (wie übrigens auch Amerika nicht, was bei der gegenwärtigen US-Regierung besonders offensichtlich ist), die eigenen Interessen durchzusetzen. Daimler zitiert in seiner Werbung den Dalai Lama, China heult auf; Lady Gaga unterhält sich mit dem Dalai Lama über Yoga, China ist beleidigt – Daimler wirft sich in den Staub und entschuldigt sich händeringend, Lady Gaga kann man seither in China nicht mehr hören.

Fazit: Mehr als notwendige Aufklärung – Pflichtlektüre!

  Kai Strittmatter
Die Neuerfindung der Diktatur
Wie China den digitalen Überwachungsstaat 
aufbaut und uns damit herausfordert
Piper, München 2019

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