Die Bücher, die mich bereits auf den ersten Seiten lachen und zustimmend nicken lassen, sind selten, sehr selten. Es liegt an Sätzen wie etwa diesem: "Was an den Eingeweiden oder der Hirnschale macht uns zu dem, was wir sind?" Er stammt aus der Einleitung von Thomas Lynch; ich selber wäre wohl gar nie auf so eine Frage gekommen und frage mich jetzt: Warum eigentlich nicht? Stelle ich mir die falschen Fragen? Setze ich mich etwa mit Unwesentlichem auseinander?
Auch im ersten dieser insgesamt fünfzehn Beiträge stosse ich auf Sätze, die mich verblüffen."Wir mögen nicht wissen, wie wir unseren Kot produzieren, aber unser Bauch weiss es. Wir mögen nicht viel vom Sterben verstehen, aber unser Körper wird das für uns übernehmen. Wir wissen mehr, als wir glauben. Und 'wir' müssen es gar nicht wissen, um es wissen." Derart hilfreich beschliesst Naomi Alderman ihren Text über den Verdauungstrakt, der übrigens hinreissend beginnt, nämlich so: "In der räumlichen Nähe von Anus und Genitalien liegt Freud zufolge der Ursprung vieler, wenn nicht gar aller menschlichen Neurosen. Heutzutage ist es modern, sich von Freud zu distanzieren. 'So weit würde ich nicht gehen', heisst es dann und 'Natürlich war Freud von Sex besessen'. Aber ich würde soweit gehen, und die meisten Menschen sind von Sex besessen."
Unter der Haut heisst im Untertitel Eine literarische Reise durch unseren Körper, was ziemlich irreführend ist, denn literarisch ist an diesen Texten so ziemlich gar nichts, vielmehr handelt es sich um originelle, informative und spannende Essays zu Niere, Gehirn, Ohr, Schilddrüse etc. So widmet sich Christina Patterson der Haut, die dazu bestimmt ist, uns vor der Welt zu schützen. "Sie hält alles zusammen. Sie wahrt die Temperatur, die der Körper zum Überleben braucht. Sie dehnt sich und zieht sich zusammen, wie es gerade erforderlich ist, sie beschützt Sie vor Gefahren und warnt Sie vor Schmerz. Und sie ermöglicht es Ihnen, die wärmenden Sonnenstrahlen oder das erregende Knistern der Berührung eines Geliebten zu spüren."
A.L. Kennedy schreibt über die Nase ("Geruch kann Gedanken verändern."), Ned Beauman über seine Blinddarm-Obsession, Abi Curtis über das Auge (das Augeninnere: "ein betörender roter Globus, in dem ein Netz von Äderchen pulsierte."), Kayo Chingonyi über das Blut und und und ... Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viel Wissenswertes, Spannendes und Überraschendes über den Körper gelesen zu haben.
Als Max Ravenhill eine leichte Gelbfärbung seines Körpers feststellt und überdies sein Urin fast braun und sein Stuhl kalkig-weiss ist, tippt er auf Gelbfieber. "Eine kurze Google-Recherche überzeugte mich davon, dass ich meine Selbstdiagnose von Verstopfung zu Krebs im fortgeschrittenen Stadium hochschrauben musste." Der Arzt eröffnete ihm dann, es handle sich um einen Gallenstein.
"Es gibt Dinge, über die man nur nachdenkt, wenn sie nicht mehr funktionieren: der Keilriemen, die Gastherme, der Darm", hält William Fiennes in seinem Beitrag über den Darm fest. Damit dies nicht so bleibt, sollte man sich diesen höchst gelungenen Band vornehmen und dabei, neben dem bisher Gesagten, vielfältig über die Niere (Annie Freud), das Gehirn (Philipp Kerr), die Lunge (Daljit Nagra), das Ohr (Patrick McGuinness), die Schilddrüse (Chibundu Onuzo), die Leber (Imtiaz Dharker) sowie die Gebärmutter (Thomas Lynch) informiert werden.
Die Essays in diesem Buch wurden ursprünglich von BBC Radio 3 in Auftrag gegeben und gesendet. Sie sind von unterschiedlicher Qualität, doch informativ sind sie alle. Meine Lieblingsstücke stammen von Naomi Alderman, Ned Beauman, Mark Ravenhill, Philipp Kerr und Annie Freud, die unter anderem feststellt: "Dass die Nieren im Alten Testament mehr als dreissigmal erwähnt werden, erscheint vielleicht wenig bemerkenswert, bis man es der Tatsache gegenüberstellt, dass das Gehirn kein einziges Mal genannt wird."
Fazit: Sehr unterhaltsam, höchst lehrreich und ausgesprochen nützlich.
Unter der Haut
Eine literarische Reise durch unseren Körper
Goldmann, München 2019
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