Wednesday, 11 December 2019

Im heutigen Indien

Die erste Geschichte dieses Romans handelt von einem Inder, den die zwanzig Jahre im "plüschgepolsterten Westen" haben "so dünnhäutig wie einen braven, behüteten Erste-Welt-Liberalen werden lassen" und der nun zusammen mit seinem sechsjährigen Sohn den Taj Mahal besucht, wobei er höchst Verwirrendes erlebt. Unverzüglich fühle ich mich vor Ort und mit dabei, denn was die beiden da machen, habe ich selber einmal gemacht und so konnte ich mich dem hier geschilderten touristischen Leistungsdruck auch nur schwer entziehen.

Auch die zweite Geschichte handelt wesentlich von der Aussensicht eines Inders auf Indien. In diesem Falle besucht ein in London ansässiger junger Mann seine in Bombay wohnhafte Familie und weiss nicht (mehr) so recht, wie er sich den Bediensteten gegenüber verhalten soll. Als die Köchin ihn auffordert, ihre Familie auf dem Land zu besuchen, tut er das und erfährt dabei einiges über sie (und auch über sich). Die Einblicke, die man in die indische Klassengesellschaft (wer es sich finanziell erlauben kann, hält sich Kindersklaven) gewinnt, sind eindrücklich und machen überdeutlich, dass die Inder in einer Komplexität gefangen sind, aus der ein Entkommen nicht so einfach möglich ist.

In Geschichte Nummer drei finden Slumkinder ein Wesen, das sich als Bärenjunge entpuppt. Ob sich dieser wohl zum Tanzbär eignen könnte? Man erfährt viel über das Leben in den Slums (etwa dass die Toilette in der Schule eine Neuigkeit für die Kinder war, denn bei ihnen zu Hause gab es keine, sie erledigten ihr Geschäft im Freien) und immer mal wieder ging mir die Beobachtung von U.R. Ananthamuthy durch den  Kopf, der einmal geschrieben hat, indische Schriftsteller hätten gegenüber den westlichen Kollegen den Vorteil, gleichzeitig im 12ten und 21ten Jahrhundert zu leben und in all den Jahrhunderten dazwischen.

"Das erste Bild, das ihr in den Sinn kam, wenn sie an jenen Tag dachte, war der sprühende Bogen, den das Blut beschrieben hatte, als sie die rechte Hand ihres Bruders ins Gebüsch warfen. Ihre Augen waren der fliegenden Kurve der Tropfen gefolgt, als die abgetrennte Hand in die Büsche flog und verschwand." So beginnt Geschichte Nummer vier (von insgesamt fünf) und spätestens jetzt merkt man, dass man es mit einem ausserordentlich begabten Autor zu tun hat.

Neel Mukherjee schreibt derart fesselnd, dass man glaubt zu verstehen, dass in solchen Verhältnissen zu überleben, eine Kraft braucht, über die in behüteten Verhältnissen Aufwachsende wohl kaum verfügen. Was sich bei der Lektüre dieser grossartigen Literatur jedoch vor allem einstellt, ist (zugegeben, ich spreche von mir) eine unbändige Wut auf ein Gesellschaftssystem, dass solche Zustände produziert. Denn – keine Frage – was dieser Roman schildert, ist realistisch.

Das Leben in einem Atemzug macht auch auf Verblüffendes aufmerksam, nämlich den "Hass des Erfolgreichen auf die weniger Glücklichen der eigenen Gruppe." Und er lässt einen mit dem Gefühl zurück, dass die soziale Lage in dem Land hochexplosiv ist. Ein Schauspieler in einem im Slum aufgeführten Theaterstück formuliert es so: "Wenn ihr tötet, töten wir auch. Wenn ihr Gewehre habt, haben wir auch Gewehre."

Neel Mukherjee wurde 1970 in Kalkutta geboren, studierte Englische Literatur in Oxford und Cambridge und lebt in London. Hanya Yanagihara, die Autorin des in jeder Hinsicht aussergewöhnlichen "Ein wenig Leben", hat von diesem Roman in den höchsten Tönen geschwärmt und auf den Punkt gebracht, was wesentlich sein Thema ist – die "schonungslose Erkundung, wie die enorme gesellschaftliche Ungerechtigkeit menschliches Verhalten deformiert." Was sich übrigens auch darin zeigt, dass Menschen selbst äusserlich sich den Tieren angleichen.

Fazit: Eindrücklich und Horizont erweiternd.

Neel Mukherjee
Das Leben in einem Atemzug
Verlag Antje Kunstmann, München 2018

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