Wednesday 6 May 2020

Das Leben der Surrealisten

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Desmond Morris, geboren 1928, ist mir als Autor von Der nackte Affe bekannt. Das 1967 erschienene Werk wurde weltweit über 12 Millionen Mal verkauft. Dass er nicht nur Verhaltensforscher, sondern auch surrealistischer Künstler war, wusste ich nicht. Dass er zudem auch als Autor und Filmemacher hervorgetreten war, wusste ich genau so wenig, doch dass er so vielfältig unterwegs ist, nimmt mich für ihn ein. Schliesslich ist das Leben zu vielfältig, um sich nur einem Fachgebiet zu widmen.

Ich weiss so recht eigentlich gar nichts über die Surrealisten, als ich dieses Buch zur Hand nehme – gerade mal einige Namen sind mit bekannt und natürlich die Bilder von Salvador Dalí. Von Man Ray habe ich eine recht gute Vorstellung, da er einige Jahre  mit der Fotografin Lee Miller, die später Roland Penrose heiraten sollte, zusammen gewesen war – , was Desmond Morris von ihm berichtet, lässt ihn mich wieder anders sehen.

Die wichtigste Regel der Surrealisten war, mit dem Unbewussten zu arbeiten, also nicht zu planen, nicht zu analysieren. "Lass deine dunkelsten, irrationalsten Gedanken aus deinem Unbewussten aufsteigen und sich auf deiner Leinwand ausbreiten (....) handelt es sich doch um jene tieferen Schichten, in denen wir alle die gleiche Hoffnung, die gleiche Angst, den gleichen Hass, die Liebe und die Sehnsucht spüren."

Es versteht sich: Jeder dieser Idealisten tat das auf seine Art. Und auch ihr Leben lebten sie nach ihren jeweils eigenen und unterschiedlichen Vorstellungen. "Eine kleine Gruppe ungebärdiger Intellektueller, die in einem Café palaverte und eine Zeitschrift herausgab", meinte der spanische Regisseur Luis Buñuel. Was ist von ihnen geblieben? Desmond Morris formuliert es für sich so: "Geblieben ist mir vor allem der freie Zugang zu den Tiefen des menschlichen Wesens, der uns wichtig war und den wir ersehnten, dieser Ruf nach dem Nicht-Rationalen, nach dem Dunklen, nach den Impulsen, die aus den Tiefen unseres Ichs kommen."

Das Leben der Surrealisten ist kein Versuch, die Werke der Surrealisten zu analysieren. Vielmehr geht es um die Surrealisten als Menschen, als Individuen. "Wie war ihre Persönlichkeit, was waren ihre Vorlieben, ihre Charakterstärken, was ihr Schwächen? Haben sie sich ins Gesellschaftsleben gestürzt oder waren sie einsam? Waren sie kühne Exzentriker oder ängstliche Eremiten? Waren sie sexuell normal oder erotisch pervers? Waren sie Autodidakten oder besassen sie eine akademische Ausbildung?" Kurz und gut: Dieses Buch handelt von den Fragen, die mich am allermeisten interessieren.

Zweiundzwanzig Lebensbilder hat Desmond Morris geschaffen; seine Auswahl war subjektiv – wie sollte es auch anders sein? – , es sind die für ihn interessantesten, die er hier vorstellt. Alberto Giacometti und Meret Oppenheim gehören dazu wie auch Dorothea Tanning und Pablo Picasso. Vieles, was ich erfuhr, dünkte mich spannend und anregend; Einiges hinterliess starke Bilder in meinem Kopf. Etwa, dass Hans Arp nach dem tragischen Tod seiner Frau sich eine Zeit lang in völliger Einsamkeit in einem Dominikanerkloster aufhielt, den Rat von C.G. Jung suchte und sich für Mystizismus zu interessieren begann.

Das Leben der Surrealisten ist voller anregender Anekdoten, reich an spannenden Details wie etwa diesem: "Der Hollywoodstar Marlene Dietrich kam mit vierundvierzig koffern und dem intensiven Wunsch in Paris an, Giacometti kennenzulernen, dessen arbeiten sie in New York gesehen und bestaunt hatte." Oder diesem: Dass Meret Oppenheim die Idee zur Pelztasse samt Untertasse und Löffel, die sie berühmt gemacht hatte, einer beiläufigen Bemerkung Pablo Picassos verdankte.

Ausgesprochen erhellend sind Morris' Ausführungen über Francis Bacon, der sich selber als Surrealist verstand, jedoch von der Londoner Gruppe 1935/36 abgelehnt wurde. Ein wesentlicher Teil dessen, was über Bacons Werk geschrieben worden sei, gehe am Kern vorbei. "In seiner Kunst nahm er alles schwer, während er im Leben alles leicht nahm." Allerdings: "Er war boshaft, eitel, beleidigend, arrogant, illoyal und wenig zuverlässig …".

Immer mal wieder habe ich mich gefragt, ob Künstler per definitionem höchst unangenehme (nein, nicht einfach nur schwierige, denn das sind wir alle) Menschen seien. Von keinem einzigen in diesem Werk könnte ich sagen, er sei mir sympathisch. Die andere Frage, die sich mir stellte: Kann/will ich das Werk von seinem Schöpfer trennen? Nein, will ich ich nicht, doch es ist möglich, sie nebeneinander stehen zu lassen. Desmond Morris zeigt in diesem Buch exemplarisch, wie das geht. So beschreibt er André Breton als kleinlichen Diktator, "arrogant, widersprüchlich, verlogen, aufgeblasen und rachsüchtig, aber gleichzeitig war er die treibende und wichtigste Kraft der surrealistischen Bewegung – sie wäre ohne ihn wesentlich glanzloser verlaufen."

Das Leben der Surrealisten ist ein sehr schön gestaltetes Buch, mit Foto-Porträts der Künstler sowie einem für ihr Gesamtwerk charakteristischem Bild, das dem Lebensgefühl der Surrealisten wunderbar gelungen Ausdruck gibt. Eileen Agar hat es für sich so formuliert: "Ich habe mein Leben in der Revolte gegen die Konvention verbracht und dabei versucht, in die alltägliche Existenz Farbe, Licht und ein Gefühl für das Geheimnisvolle zu bringen."

Fazit: Ein Juwel von einem Buch!

Desmond Morris
Das Leben der Surrealisten
Unionsverlag, Zürich 2020

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