Ich habe nie recht verstanden, was man unter Aufarbeitung der Vergangenheit eigentlich versteht. Und noch weniger, wie eine solche praktisch aussehen sollte. Gedenktage mit Politikerreden, Gesten wie Brandts Kniefall in Warschau habe ich immer als Inszenierungen für die Kameras wahrgenommen. Ich kann sie nicht wirklich ernst nehmen, da ihnen etwas theatralisches anhaftet. Mit anderen Worten: Ich war gespannt, was Brauner Boden mich lehren würde.
Keine Frage, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tut Not. Natürlich sollen Taten und Täter benannt werden. Und natürlich auch die Täterinnen. Die eigene Schuld gehört anerkannt, eine ernst gemeinte Entschuldigung muss eine Selbstverständlichkeit sein, Wiedergutmachung ebenso. „Dabei geht es nicht allein um Personen, die sich durch eine besondere Regimetreue und aktive Mittäterschaft hervorgetan hätten; vielmehr bedeutet eine ehrliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte auch, die Spuren der aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden Profite nachzuzeichnen und ihre Auswirkung auf die gesellschaftlichen Strukturen der heutigen Zeit zu erläutern.“
Genau dies leistet dieses Buch, wobei der Fokus auf den oft ignorierten sozialen und wirtschaftlichen Ermöglichern und Profiteuren liegt. Es ist dies ein Ansatz, den man sich öfter wünschen würde, nicht nur im Zusammenhang mit NS-Verbrechen.
Am Beispiel des Familienunternehmens Henkel – beileibe kein Einzelfall – verweisen Zachary und Katharina F. Gallant hauptsächlich auf Arbeiten von Historikern, was naheliegend ist und gleichwohl irritiert, denn die Frage besteht nicht darin, wer und inwiefern zur Zusammenarbeit, Beihilfe und Unterstützung des NS-Regimes und seiner schlimmsten Verbrechen durch das Henkel-Unternehmen beigetragen hat, sondern wie es kommt, dass solche Unternehmen auch heute wieder im Geschäft sind. Eine echte, ernsthafte Konfrontation mit der Vergangenheit, so mein Eindruck, will niemand, auch die damaligen Sieger nicht. Denn dann müsste sich wirklich etwas fundamental verändern … und das erachten die wenigsten für wünschenswert.
Das hindert jedoch Zachary und Katharina F. Gallant nicht, genau dies zu fordern – zu Recht, wie ich finde. „Eine wirkliche Aufarbeitung verlangt eine Analyse des gesamten Systems, das Unrecht und Völkermord ermöglichte. Dieser Prozess ist weder in Unkel noch im übrigen Deutschland ausreichend vorangetrieben worden, solange Unternehmen, die von der Shoah profitiert haben, nicht zur Verantwortung gezogen werden.“
Am Beispiel der Kleinstadt Unkel machen sie deutlich, wie gedankenlos der Mensch durchs Leben geht. Da werden sowohl die Henkel-Familie als auch Willy Brandt geehrt – weniger aus Gründen der Toleranz als aus Denkfaulheit. Aber natürlich auch, weil die Forderungen, die Zachary und Katharina F. Gallant stellen – genaues Hinschauen, Aufrichtigkeit, Verantwortungsübernahme – , ohne Druck, massiven Druck, wohl kaum eine Chance haben, erfüllt zu werden. Moralische Appelle oder vernünftige Argumente werden mit Sicherheit nicht genügen.
Es sind Sätze wie diese, die deutlich machen, dass es mit Gedenktagen und Erinnerungskultur nicht getan ist. „Es wird erinnert und beteuert, die Shoah dürfe sich nicht wiederholen. Doch wird dabei das Judentum oftmals auf den Genozid reduziert. Jüdisches Leben – damals wie heute – kommt dagegen kaum zur Sprache. Zeugnisse jüdischen Lebens und eines Miteinander in Vielfalt schwinden zusehends. Investitionen werden dort getätigt, wo monetäre Gewinne locken, während (historisch) wertvolle Kulturdenkmäler abgerissen werden.“
Brauner Boden erläutert und analysiert den Status quo, anerkennt die Anstrengungen der Institutionen und politisch Verantwortlichen, mahnt jedoch, es nicht dabei zu belassen und macht konkrete Vorschläge, in welche Richtung es gehen sollte. „Deutschland ist einen weiten Weg gegangen im Umgang mit den eigenen Verbrechen der NS-Zeit. Von unseren Mäzeninnen und Mäzenen müssen wir dasselbe erwarten wie von unseren Regierungen.“ Wobei: Auch von den politisch Verantwortlichen erwarten Zachary und Katharina F. Gallant mehr: „Eine authentische Aufarbeitung muss gemeinsam von jüdischen und nicht-jüdischen Menschen durchgeführt werden – wohlgemerkt als Dialog in Andersartigkeit.“
Echte Aufarbeitung ist ein Prozess und bedeutet immer wieder von Neuem zu fragen, wie Auschwitz möglich war und wie es sein kann, dass die Ermöglicher und Profiteure der NS-Zeit nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Zu fragen und sich mit den Antworten nicht zufrieden zu geben, ist die Grundlage für die dringend nötige Empörung angesichts der nicht enden wollenden Ungerechtigkeiten.
Zachary und Katharina F. Gallant
Brauner Boden
Ein jüdischer Blick auf die deutsche Aufarbeitung der NS-Zeit
Westend, Frankfurt am Main 2022
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