Man kann in Bildern nur erkennen, was man kennt. Wüsste ich nicht, dass es sich bei den in diesem Band Abgebildeten um Psychiatriepatienten handelt, würde ich das vermutlich auch gar nicht sehen.
Ein Bild zeigt Frauen unterschiedlichen Alters um einen Tisch gruppiert, eine von ihnen hält ein Buch in der Hand und liest anscheinend vor. Das Bild wurde offenbar in der kantonalen Irrenanstalt Waldau aufgenommen; die Bildlegende lautet: "Waldau. Schizophrene liest anderen Kranken nach der Arbeit vor." Des Weiteren steht da: "Fotografin/Fotograf unbekannt, undatiert, Glasdiapositiv, 9x12cm PM K03-003." Mit diesen Informationen im Kopf sehe ich ein anderes Bild als ich ohne sie gesehen habe. Ich frage mich jetzt: Woher kann/will man wissen, dass es sich bei der Vorleserin um eine Schizophrene handelt, wenn man weder weiss, wer die Aufnahme und wann gemacht hat?
Bei anderen Fotografien ist der Fotograf oder die Fotografin aufgeführt. Über Hermann Rorschach lese ich schmunzelnd: "Er ist kein besonders guter Fotograf, sollte aber ein weltbekannter Psychiater werden." Im Beitrag über "Dr. Marie von Ries-Imchanitzky als fotografierende und fotografierte Ärztin in der Klinik" erfahre ich unter anderem, dass gestellte Gruppenbilder, als "ein Genre, das nicht als besonders kunstreich gilt" bezeichnet wird. Wie kommt das? Gerade Gruppenbilder sind fotografisch eine Herausforderung, ist es doch viel schwieriger eine Gruppe als einen Einzelnen 'zu kontrollieren'. Doch wie auch immer: Mich berührten in diesem Band vor allem die Gruppenbilder, vielleicht auch, weil es da so viel Unterschiedliches zu sehen gibt.
Dieses zweisprachige Werk (Deutsch/Englisch) von Fotografien, die in psychiatrischen Einrichtungen von 1880 bis 1935 aufgenommen wurden, begleitet die im Jahr 2022 stattfinden Ausstellungen der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, des Kunstmuseums Thurgau, Kartause Ittingen sowie des Psychiatrie Museums Bern. Dass das Kunstmuseum Thurgau auf dem Umschlag als Herausgeberin ausgewiesen wird, hat mich etwas irritiert, denn mit Kunst bringe ich die Aufnahmen in diesem Band nicht in Verbindung, sondern ausschliesslich als Dokumente, die bezeugen, dass etwas einmal so gewesen ist wie es abgebildet wurde. Die Ausführungen von Sabine Münzenmaier in Sachen "Sammeln, Vermessen, Beschreiben und Dokumentieren" halten treffend fest: "Fotografien entstanden auf chemisch-physikalischem Weg, und gerade deshalb wurde ihnen ein hoher Grad an Glaubwürdigkeit zugewiesen."
"Die Kamera giert nach dem Spektakulären, will attraktive Bilder liefern und stellt mit Vorliebe das in den Vordergrund, was auffällig ist, 'ins Auge fällt'", lese ich im Vorwort. Etwas unglücklich formuliert, wie ich finde, denn es sind die, welche die Kamera bedienen, die entscheiden, wie diese 'certificates of presence' (Barthes) aussehen sollen. Einzelporträts, Gruppenaufnahmen, Esszimmer, Anstaltsküche. Es handelt sich "um eine disparate Ansammlung von Aufnahmen mehrerer Fotografinnen und Fotografen, meist Psychiaterinnen und Psychiater, die sich den Umgang mit der Kamera autodidaktisch aneigneten."
Zudem: "Auf alle Fälle müssen Betrachterinnen und Betrachter sich bewusst sein, dass die von der Kamera festgehaltenen Wirklichkeiten Konstrukte sind, die die Aufmerksamkeit manipulieren und einer kritischen Überprüfung bedürfen." So richtig dies ist, mich befremdet die Wortwahl: So gesehen wäre jeder Entscheid, etwas zu fotografieren und etwas anderes nicht, eine Manipulation der Aufmerksamkeit. Nur eben: to direct one's attention gehört zum Wesen der Fotografie und ist (jedenfalls im allgemeinen Sprachgebrauch) nicht notwendigerweise eine Manipulation.
Unter dem Titel "Arbeit als Therapie" werden Fotos von Patienten als Dachdecker, beim Gemüserüsten oder beim Sonnen der Bettdecken (das für mich eigenartigste Bild in diesem Band) gezeigt.
Pflegeanstalt Alt-Rheinau, «Anstalt Rheinau, beim Sonnen»,
Sonnen der Bettdecken am Rheinufer vor der Anstalt, um 1910, Glasdiapositiv © Naturforschende Gesellschaft Schaffhausen
Der instruktive Text von Urs Germann macht deutlich, dass es bei diesen Aufnahmen auch darum ging, "dem Publikum nicht nur den nützlich-produktiven, sondern auch den therapeutischen Charakter der Heil- und Pflegeanstalten vor Augen zu führen. Dies mag aus heutiger Sicht erstaunen. Für die damalige Psychiatrie ging es aber auch darum, eine Differenz zu anderen Sozialeinrichtungen zu markieren, denen Insassinnen und Insassen (Zwangs-)Arbeit leisten mussten, insbesondere zu Zwangsarbeits- oder Strafanstalten."
Fazit: Erhellend und berührend.
Kunstmuseum Thurgau
Hinter Mauern Behind Walls
Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen von 1880 bis 1935
Photography in Psychiatric Institutions from 1880 to 1935
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