Die Formation der Stare auf dem Umschlagbild dieses Buches, auf dem sie die Form eines Löffels (voller Zucker?) annehmen, macht mich mehr als nur staunen: Es führt mir vor Augen, wie wenig unser übliches Denken, das in Kategorien von Ursache und Wirkung funktioniert, das Wunder der Existenz zu erklären vermag. Zugegeben, unser gewohntes Denken hat Erstaunliches begreifbar gemacht und bringt tagtäglich Staunenswertes hervor, doch wie will man sich das Verhalten der Stare erklären? Giorgio Parisi, Nobelpreisträger für Physik 2021, versucht es mit den Mitteln der Physik.
Vor Jahrhunderten verbrachten Stare die warmen Monate in Nordeuropa und überwinterten in Nordafrika. Mittlerweile haben sich die Temperaturen verändert, einerseits wegen des Klimawandels, andererseits haben sich die Städte, ihrer Grösse sowie der Wärmequellen wie Haushalte und Verkehr wegen, aufgeheizt.
Wissenschaft beginnt mit genauem Hinschauen; faszinierend, was es da zu sehen gibt. "Als soziale Tiere sind Stare ein Leben in Gemeinschaft gewohnt: Wenn sie sich auf einem Feld niedergelassen haben, gibt sich eine Hälfte in Ruhe dem Picken hin, während die andere an den Rändern nach anfliegenden Fressfeinden Ausschau hält. Die Rollen werden getauscht, wenn sie über das nächste Feld herfallen."
Theoretische Physiker beschäftigen sich mit abstrakten Konzepten. Die Bewegung der Stare zu studieren ist jedoch ein reales Problem, das von unzähligen Variablen wie zum Beispiel der Auflösung und Brennweite der Kameraobjektive und der optimalen Aufstellung der Geräte abhängt. Die erste Herausforderung bestand darin, ein dreidimensionales Bild des Schwarms und seiner Gestalt zu erstellen.
Die Beobachtung der Vögel zeigte, dass der Schwarm seine Form rasant verändert. "Am Himmel bewegen sich vielfältig geformte Objekte, die sich abrupt zusammenziehen, sich enger zusammendrängen, wieder auseinanderstreben, in der die Formen umschlagen, fast unsichtbar und dann dunkler werden. Ihre Gestalt und Dichte schwankt gewaltig."
Doch was hat die Erforschung dieser Vogelschwärme gebracht? Sie hat das bislang geltende Paradigma, gemäss dem die Interaktion von der Entfernung abhänge, vollständig verändert. "Seit unserer Arbeit ist dagegen zu berücksichtigen, dass sie immer zwischen Nachbarn stattfindet."
Das für mich Eindrücklichste: Die Formationen zeichnen sich dadurch aus, dass die Vögel am Rand enger beieinander fliegen als im Zentrum. Diese dichten Ränder funktionieren als Schutzmechanismus gegen die Angriffe der Wanderfalken.
Der grösste Teil des Buches handelt allerdings nicht von Staren, sondern von Parisis Leben als Wissenschaftler und seiner Forschung. Reminiszenzen an die Studienjahre in Rom, die in die Zeit der Achtundsechziger fielen, erhellende (und mir sehr sympathische) Ausführungen über den kulturellen Wert der Wissenschaft, spannende Fragen beim Beobachten "normaler" Phänomene wie etwa: Warum beginnt Wasser bei einer Temperatur von 100 Grad Celsius zu sieden?
Wir wissen meist nicht so genau, weshalb wir tun, was wir tun. Und warum wir plötzlich etwas begreifen, was uns zuvor unverständlich schien. Zuweilen, so Giorgio Parisi, genügt eine winzige Information, um einen Durchbruch zu erzielen. "So berichtete Einstein beispielsweise, er habe 1907 viel über die Gravitation nachgedacht und eines Tages die 'glücklichste Intuition seines Lebens' gehabt: Wenn wir im freien Fall in die Tiefe stürzen, spüren wir keine Schwerkraft mehr. Die Gravitation löst sich um uns herum auf. Die Schwerkraft hängt vom Bezugssystem ab, so dass sie sich, zumindest lokal, aufheben lässt, wenn wir ein geeignetes System wählen."
Fazit: Faszinierend und horizonterweiternd.
Giorgio Parisi
Der Flug der Stare
Das Wunder komplexer Systeme
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022
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