Wednesday 29 March 2023

In China zu Hause

Es sei gleich vorweggenommen: Dieses Buch ist ein Augenöffner, das weiss ich bereits nach den einleitenden Worten des Herausgebers Frank Sieren, der mir weit deutlicher zu Bewusstsein bringt, dass die Welt, wie wir Westler sie kennen, sich zur Zeit in einem weit gewaltigeren Umbruch befindet, als mir bislang klar gewesen ist.

Herausgeber Sieren hat sich mit Menschen unterhalten, die mehrheitlich als sogenannte Expats in China gelandet sind. Ob sie sich frei äusserten, weiss ich nicht, doch ich nehme an, die Jahre in China haben sie gelehrt, dass man besser nicht frei heraus sagt, was man denkt. Dass dem nicht nur in China so ist, versteht sich von selbst, doch als ich einst selber ein Semester lang im Land unterrichtete, glaubte ich so etwas wie eine ständige, wenn auch unsichtbare Überwachung zu spüren, die mich recht eingeschüchtert zurückliess. Dazu kommt, dass von Menschen, die in einem Land ihrer Wahl leben, zu erwarten ist, dass sie sich tendenziell positiv äussern.

Als ich mich damals, vor über zwanzig Jahren, nach China aufmachte, glaubte ich mich, schliesslich hatte ich viele Jahre in Südostasien, und da hauptsächlich in Thailand, verbracht, recht gut gewappnet – ich hatte mich gründlich geirrt. In China zu Hause zeigt mir auf, dass ich mich noch gründlicher geirrt hatte, denn China ist China, der Vergleich mit anderen Ländern abwegig. So ist es etwa so gut wie unmöglich, einen chinesischen Pass zu bekommen und Chinese zu werden.

"Die westlich dominierte Weltordnung wird neu verhandelt", schreibt Frank Sieren. Nicht zuletzt, weil die  Etablierten im Westen nur gerade zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. So haben sich 170 der 195 Staaten der Erde den Sanktionen des Westens gegen Russland nicht angeschlossen. Es ist dies kein Thema, das in den westlichen Medien grosse Beachtung findet, ich jedenfalls habe zum ersten Mal in diesem Buch davon gelesen.

Die Ansichten der in diesem Band zu Wort Kommenden sind unterschiedlich, die für mich aufschlussreichsten stammen von der Fachärztin für Innere Medizin, Allgemeinmedizin und Psychotherapie Michaela Heinke, die auf die Frage, ob sie sich lieber in Deutschland oder in China behandeln lassen würde, antwortete: "Also erst einmal nach China, weil es dort einfach schneller geht." Sie hält übrigens die Chinesen für weit geduldiger und weniger aggressiv als Westler. "Chinesen fragen sich viel eher: Warum soll ich mich mit diesem Typen oder dieser Situation anlegen? Das kostet mich nur Kraft und Zeit. Da lächle ich doch lieber, gehe weg oder halte durch."

Spannend auch, was der Rechtsanwalt Matthias Schroeder zum chinesischen Rechtsverständnis zu sagen hat, das sich nicht so sehr am Einzelnen, sondern an der Gemeinschaft orientiert. "Die Menschen in China leben viel mehr in Rollen. Sie sind Sohn oder Vater. Lehrer oder Schüler. Manager oder Assistent. Sie werden auch so angesprochen und verhalten sich danach, Das geht so weit, dass selbst erwachsene Menschen ihren Eltern nur das erzählen, was Kinder Eltern so gemeinhin erzählen. Es geht um die Rolle, nicht um persönliche Gefühle."

Die Geschwindigkeit, mit der China immer innovativer werde, sei atemberaubend, erfahre ich. Und dass der westliche Glaube, die wirtschaftliche Öffnung werde auch die politische Öffnung nach sich ziehen, sich als Irrtum herausgestellt hat. Und dass die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen durch Corona keinen Schaden erlitten habe

Frank Sierens Gesprächspartner kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Vom Entwicklungshelfer in Sachen Fussball ("Das gesamte Bildungssystem funktioniert anders. Die Autorität eines Lehrers oder der Trainer ist in China extrem hoch.") über den Autohändler für Luxusautos ("Die Autos werden in China anders genutzt. Es geht generell viel weniger um das Fahrverhalten, um die Strassenlage oder Motorgeräusche im Stop-and-Go der Megastädte, sondern um Stil, Luxus und Design.") zur Physikerin, die den akademischen Austausch organisiert ("Wenn ich hier etwas gelernt habe, dann zügig und instinktsicher zu entscheiden, worüber zuvor noch nie entschieden werden musste.").

Alles muss schnell gehen (so auch mein Eindruck aus meiner Zeit vor Ort), was mich auch an die USA erinnert, doch gleichzeitig scheint den Chinesen die Fähigkeit des Hinnehmens gegeben zu sein, die den Amis (und Westlern generell) eindeutig abgeht.

So aufschlussreich dieses Buch grösstenteils ist, Herausgeber Sieren stellt auch immer wieder Fragen, die schlicht nicht zu beantworten sind (eine Journalistenkrankheit) wie etwa "Welche Fehler machen chinesische Firmen in Deutschland?" oder "Wie ist die Stimmung in China im Vergleich zu Deutschland?" Das erinnert an die typisch amerikanische Frage nach der Lieblingsfarbe, auf die Engländer in der Regel antworten: Für Unterhosen, eine Tischdecke oder für Sonntagssocken?

In China zu Hause ist ein nützliches, wenn auch eigenartig unpersönliches Buch. Weshalb jemand statt in dem Land seiner Geburt, in einem Land seiner Wahl lebt, hat nämlich, jedenfalls gemäss meiner Erfahrung, meist mit sehr emotionalen Gründen zu tun (man verliebt sich, fühlt sich angezogen von Gerüchen, von Farben, vom Essen, den Umgangsformen, der Musik etc.), von denen jedoch in diesen Interviews kaum die Rede ist.

Frank Sieren
In China zu Hause
Gespräche mit deutschsprachigen Expats, die ihr
Leben im boomenden Reich der Mitte verbringen
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2022

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