Wednesday 13 September 2023

Die Erinnerungsfotografen

Der erste Eindruck: Das ist ein klassisch japanisch schön gestaltetes Buch, das Cover und die rosa Schnittverzierung haben mich unmittelbar angesprochen.

Worum geht's? Herr Hirasaka betreibt ein Fotostudio an der Schwelle zum Jenseits, im Grenzbereich zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Hier zählen nur die Erinnerungen.

Hatsue ist zweiundneunzig und soll nun zweiundneunzig Fotos auswählen und anhand dieser zurück auf ihr Leben schauen. Eine faszinierende Idee, denn was anderes ist unser vergangenes Leben als eine Erinnerung? Und was könnte sie besser auslösen als ein Foto?

Neben Hatsue, die in jungen Jahren als Kinderbetreuerin gearbeitet hat, treten noch zwei weitere Personen auf: Herr Shohei Waniguchi, ein Yakuza, der mit einem Schwert erstochen, und Mitsuru, ein Mädchen, das von seinen Eltern missbraucht und zu Tode geprügelt worden war.

In dem Zwischenreich, in das die drei eintreten, können sie Erfahrungen machen, die ihnen in ihrem vorherigen Leben verwehrt waren. So wagte es einst niemand, Waniguchi zu nahe zu kommen, jetzt aber spazierten diese Leute einfach durch ihn hindurch. Mich erinnerte das auch an Hanno Kühnerts Roman Handbuch für Verstorbene, worin die Toten nach wie vor unter uns weilen, allerdings unsichtbar und mit nur einem Zehntel ihres ehemaligen Gewichts. Hirasaki erklärt: "Wenn Sie so wollen, sind wir beide jetzt nur noch Seelen. Wir sind nun substanzlose Wesen."

So faszinierend ich die Vorstellung einer solchen Zwischenwelt finde, mein Interesse an diesem Buch gilt der Fotografie. Und so habe ich zuerst einmal gestutzt, denn unter Erinnerungsfotografen konnte ich mir nicht wirklich viel vorstellen. Was, zum Beispiel, soll sie von Fotografen unterscheiden? Und überhaupt: Fotos dienen doch generell der Erinnerung.

Überaus spannend wird Mitsurus fotografische Herangehensweise geschildert. "Sie richtete die Kamera darauf. Das musste eine Mistel sein. Drei Vögel zogen in einer Reihe über den strahlend blauen Himmel. Mitsuru schaute ihnen nach. Sie hielt inne und lauschte ihren Rufen. die scharf durch die klare Luft hallten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass um sie herum ganz unbemerkt und bescheiden die ersten Wildkirschen blühten. Wieder setzte sie die Kamera an. Sie wollte es einfangen, das weiche, diffuse Leuchten der Sakurablüten im blauen Morgenhimmel. Sie betätigte den Auslöser, klick."

Die Schilderung zieht mich auch deshalb an, weil es das Fotografieren als das zeigt, was es selten ist, aber eben auch sein kann. Ein Aufmerksamwerden für den Augenblick. Meistens ist das Fotografieren etwas ganz anderes. Der Fotograf weiss, was er will und macht sich dann auf die Suche nach dem Bild, das er bereits im Kopf hat. Mitsurus Fotografieren ist das genaue Gegenteil: Sie lässt sich von dem leiten, was auf ihrem Weg liegt.

In diesem Buch geht es jedoch weniger um Fotos, sondern um die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen und das Foto, das seine Besucher ausgewählt haben, noch einmal neu aufzunehmen. Ihnen wird also erlaubt, etwas anderes zu sehen, als sie damals gesehen haben. Mit anderen Worten: Ein Foto zeigt immer etwas, das im selben Moment auch ganz anders gesehen werden kann.

Sanaka Hiiragi
Die Erinnerunsgfotografen
Hoffmann und Campe, Hamburg 2023

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