Blättert man in diesem Buch mit Bildern von Fensteransichten, fragt man sich unwillkürlich, ob das wirklich Fotos seien, was einem seine Augen da zeigen, denn die Bilder wirken wie gemalt. Dass dunkle Farben vorherrschen und die einzelnen Aufnahmen auf schwarzem Hintergrund präsentiert werden, trägt weiter dazu bei, dass man eher den Eindruck von Gemälden denn von Fotografien hat. Doch was zeigt man uns hier eigentlich?
Bildlegenden gibt es keine und wären da nicht die etwas arg allgemein gehaltenen Vorbemerkungen von Ronaldo Entler sowie die paar (auch nicht besonders aussagekräftigen) Zeilen der Cicero Galerie für politische Fotografie in Berlin auf der vierten Umschlagseite, sähe man wohl kaum viel mehr als ganz verschiedenartige Fenster, in denen sich ganz unterschiedliche Personen in Positur gestellt haben (es gibt auch Aufnahmen von geschlossenen Fenstern), eines offenbar grossen Hauses.
Damit es gleich gesagt ist: es sind sehr ansprechende Bilder, bei denen sich zu verweilen lohnt, nicht, weil sie Geschichten erzählen (das tun Fotos nämlich gar nicht), doch weil sie so arrangiert sind, dass sie in hohem Masse dazu einladen, seine Fantasie auf die vielfältigen Geschichten hinter dem Bild zu richten.
Es muss sich wohl um politische Fotografie handeln, sagt man sich, denn sonst wären diese Fotos wohl kaum in einer Galerie für politische Fotografie ausgestellt worden, die schreibt: „An der Avenida Prestes Maia, einer der grössten Strassen São Paulos, stehen zwei graue Wohnblöcke, die einst als die modernsten Gebäude Lateinamerikas galten. Die leerstehenden Hochhäuser wurden 2002 von 460 obdachlosen Familien besetzt. Diesen Hausbewohnern nähert sich Bittencourt in seiner Porträtserie fotografisch, ohne jedoch in ihre unmittelbaren Lebensräume einzudringen.“
Wem dies als Information etwas wenig scheint, muss selber zu recherchieren anfangen. Im Internet wird er dann fündig und lernt, dass Prestes Maia 911, ein 22stöckiges Gebäude, während sechs Jahren leer gestanden hatte, bevor es, mit der Hilfe der Obdachlosen Bewegung von Central São Paulo, besetzt wurde. Die Familien bauten eine Bibliothek aus weggeworfenen Büchern auf, es gab ein Kino and verschiedene Workshops wurden durchgeführt. Vier Jahre dauerte die Besetzung und in dieser Zeit war die Prestes Maia 911 auch ein Treffpunkt für Künstler. Das Gebäude besteht aus zwei Türmen und Bittencourt fotografierte, von einem Fenster im zweiten Turm, die Bewohner von den Fensterrahmen eingerahmt.
Ein origineller Ansatz. Wie kam er dazu? "Growing up in São Paulo, we had a life between windows: our mothers would call us from them when we were playing football," sagt er. "Communication in these buildings is through the windows." Die Besetzer verstanden das Haus sowohl als einen Platz, um zu leben, als auch als einen Protest. Den meisten von ihnen stellte die Regierung andere Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung oder entschädigte sie. Für Bittencourt, schreibt der Londoner Guardian, war es nie ein politisches Projekt, sondern es ging ihm um die Menschen, die er dort traf. "I wanted to show them in a different way. Even though the walls are dingy, you see a lot of dignity from the people."
Dem Blogger Jim Johnson gefiel die Aussage gar nicht. “Instead of agents seeking to fend for themselves and their compatriots by making claims on resources and on the state, we instead get bearers of abstract human dignity. You might think this is simply another of my tired left-wing efforts to find some political dimension everywhere. But go ahead and google "homeless movement Brazil." “Wer das tut, stösst unter anderem auf ein Foto, das die Fassade von Prestes Maia mit Bannern behängt zeigt, die politische Botschaften verkünden. Johnson kommentiert:
“In order to make his photographs Bittencourt must've had to walk right under these banners or ones pretty much like them. As he tells The Guardian "I spent three months studying the interior and exterior, the light, the windows, and getting to to know the residents." I wonder how he could've gotten to know the residents without really listening to what they were saying.”
In der Folge meldete sich Bittencourt bei Johnson: “I do have my political views but sincerely don't think I need to make them public. The project itself is a statement. Should talk by itself. I'm a photographer, not a writer nor a 'speecher' … The photographs and book are public and should be commented as you did in your blog. My political views you'll probably never hear of, but see.”
Johnson sieht das alles, wenig überraschend, ganz anders: “The problem, from my perspective, politics is central to the story of that building, of how the residents came to be there, of how they maintained themselves and constructed a community and of how they confronted efforts to evict them. It is central too to the predicaments the homeless and landless confront across Brazil (and elsewhere, including the U.S.). In other words, homelessness and responses to it are a political problem not an individual one.”
Sehr schön, dass diese wirklich sehr ansprechend fotografierten Bilder, zu solchen Auseinandersetzungen führen.
Julio Bittencourt
In a window of Prestes Maia 911 building
Kehrer Verlag, Heidelberg
Thursday, 9 April 2009
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