Wednesday, 6 July 2011

Das Kloster Disentis

Das ist doch Bruder Lukas, schiesst es mir beim Betrachten dieses hervorragend gelungenen Umschlagfotos durch den Kopf. Das kann unmöglich sein, korrigiere ich mich sofort, denn so wie auf dem Foto sah der damals, vor gut fünfundvierzig Jahren aus, als ich selber in Disentis Klosterschüler war. Doch er ist es.

Ich habe gemischte Erinnerungen an meine drei Disentiser Jahre, die nicht so guten überwiegen: ich litt unter Heimweh, fand die Berge und das Kloster bedrückend. Mein heutiger Blick auf das Klostergebäude (durch die Linse des Fotografen Giorgio von Arb) ist hingegen durchaus wohlwollend und die eindrücklichen Aufnahmen von Arbs lassen mich eine Spiritualität erahnen, mit der ich das Disentiser Klosterleben bisher nicht in Verbindung gebracht habe. Das spricht sehr für diese Bilder, ja ein grösseres Lob kann ich ihnen kaum machen, denn sie bringen es fertig (sicher, auch weil ich dazu bereit bin) die noch aktuellen Disentis-Bilder in meinem Kopf (in einem Fernsehbeitrag: der Abt beim Gleitschirmfliegen) in den Hintergrund zu drängen und mir das „ora et labora“ der Benediktiner vor Augen zu führen.

Einige der Klosterbewohner werden auch in Worten vorgestellt. Die gut geschriebenen Texte stammen von Erwin Koch und machen auch sprachlich klar, wie unterschiedlich die einzelnen Bewohner sind. Von Bruder Urs Probst, 57, dem Finanzverwalter, Pförtner und Sekretär des Abts, erfahren wir, dass er den Wunsch hat, einmal Lokführer zu sein. Und dass ihm „das ewig Gleiche“ (das Gebet um 5 Uhr 30, 7 Uhr 30, 11 Uhr 45, 18 Uhr, 20 Uhr) Halt gebe und Flügel verleihe. Abt Daniel Schönbächler, 68, Lehrer und Persönlichkeitsentwickler, lässt unter anderem wissen, dass der Benediktiner sein Gelübde nicht auf den Orden, sondern auf sein Kloster ablegt: „Einmal Disentiser, immer Disentiser.“ Ganz zum Wohlgefallen von Bruder Gerhard Alig, 41, Bäcker, Konventbruder und Zeremoniar, der meint: „Hier bin ich, hier bleibe ich. Das ist das Schöne am Benediktinischen. Zeit seines Lebens bleibt man Mönch seines Klosters, hüpft nicht durch die Gegend wie die Kapuziner.“

An einige der Porträtierten erinnere ich mich, die meisten sind mir jedoch fremd. Diejenigen, an die ich mich erinnere, zeigen mir Fotograf und Autor anders, als ich sie bisher wahrgenommen habe: älter und hinfälliger natürlich, aber auch humorvoller, gelassener, ja ergebener. Indem meine Augen ihr Älterwerden registrieren, werde ich mir auch meines eigenen bewusst.

Doch nicht nur Mönche und Brüder werden porträtiert. Es finden sich in diesem eindrücklichen Werk auch Aufnahmen vom Internatsleben (gemischte Klassen, die Schule wird von einer Rektorin geleitet– das war zu meiner Zeit noch anders), einer Bauplatzbegehung, vom Hochfest, von Prozessionen etc. etc. und ein ganz wunderbarer Schnappschuss (mit der etwas eigenartigen Legende: Dorfkinder im Altarraum), der zwei Erstkommunikantinnen zeigt, die eine gähnend, die andere sich womöglich fragend, was es da zu fotografieren gibt.

Es ist dies ein in vielfältigem Sinne wesentliches Buch. Weil es einem bewusst macht, dass wirkliche Freiheit in der Beschränkung zu finden ist; weil es uns die Vergänglichkeit vor Augen führt, weil es uns darauf aufmerksam macht, dass das Klosterleben keineswegs fad und farblos ist. „Im Kloster ist jeder Tag anders – obwohl im Kloster jeder Tag gleich ist“, sagt Bruder Magnus Bosshard, 69, ein ehemaliger Werber. Diese Wahrheit glaubt man beim Betrachten dieses schönen Bandes zu spüren.

Ein Buch über die Welt
Das Kloster Disentis
Fotografie Giorgio von Arb
Text Erwin Koch
Benteli, Bern-Sulgen-Zürich 2010

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