Wednesday 3 August 2011

Diplopie

Roland Barthes behauptet in seinen Mythen des Alltags von 1957 sowie in Die Fotografie als Botschaft von 1961, Schockfotos (Brände, Schiffbrüche, Katastrophen, gewaltsame Tode aus dem wirklichen Leben), seien „strukturbedingt insignifikant“, hätten also mithin „keinerlei Wert“, vermittelten „keinerlei Wissen“. Das ist ein ziemlicher Schmarren. Clément Chéroux drückt sich gewählter aus: „... um ihm eventuell zu widersprechen, ist es entscheidend, sie in historischer Perspektive zu untersuchen. Man muss sich demnach nicht nur fragen, was sie darstellen, sondern auch ermitteln, durch wen sie verbreitet wurden, mit welcher Kenntnis der jeweiligen Situation, oder wie sie wahrgenommen worden sind.“ Ein einigermassen schwieriges Unterfangen: wie will der Mann nur messen, wie Bilder wahrgenommen werden?

Es sei gleich gesagt: ich bin dieses Buch mit einiger Skepsis angegangen. Zuerst einmal verstand ich den Titel nicht. Diplopie stamme aus der Medizin und meine „doppelt sehen“, so der Autor: im Falle des 11. September beziehe sich das auf die endlosen Wiederholungen der immer gleichen Bilder. Trotzdem, einen gelungenen Titel kann ich das nicht finden. Dann störte mich, dass in der Bibliographie David Friends Watching the World Change. The Stories Behind the Images of 9/11 fehlt. Das fand ich nicht nur erstaunlich, sondern befremdlich, zumal dort vieles, das in Diplopie angesprochen wird, eingehendst behandelt wurde – meine Einschätzung von Friends Buch findet sich hier

Doch zu Diplopie: Chéroux stellt, wenig überraschend, eine Gleichförmigkeit der Berichterstattung fest. Die Zahlen überraschen dann aber doch: „86% – also fünf Sechstel – der Darstellung der Attentate auf den Titelseiten der amerikanischen Zeitungen vom 11. und 12. September in nur sechs Bildtypen erfolgte, die sich auf dreissig verschiedene Bilder verteilten.“ Allgegenwärtig dabei war die Rauchwolke. Die Uniformität beschränkte sich übrigens nicht auf die amerikanische Presse – die bestimmenden Bilder auf den Titelseiten der arabischen Zeitungen waren dieselben.

„Eine Fülle von Bildern und das Gefühl, immer dasselbe zu sehen“, kommentiert Chéroux treffend. Nun war es ja nicht so, dass ein Mangel an Fotos geherrscht hätte. Ganz im Gegenteil. Wohl selten wurden an einem Tag so viele Bilder geschossen. „In der Stunde nach dem ersten Schlag, haben wir zwischen 60 und 100 Kameras verkauft“, berichtete der Geschäftsführer eines Drugstores in unmittelbarer Nähe der Zwillingstürme. Zahlreiche Aufnahmen wurden den Medien angeboten – doch die Redaktionen zeigten sich nicht interessiert.

Trotzdem: Schockbilder (eine abgetrennte Hand; Leute, die sich von den Türmen hinunterstürzten) wurden durchaus veröffentlicht, doch verhältnismässig wenige – die brutalsten Bilder wurden nicht gezeigt. Wie kam das, was war der Grund? Selbstzensur, Medienkonzentration – rund drei Viertel der Bilder der Attentate wurden von AP verbreitet. Chéroux nennt das Öko-Zensur – ein unglücklicher Ausdruck, denn mit Öko assoziiert man im Deutschen Ökologie und nicht Ökonomie, wie Chéroux und/oder der Übersetzer und/oder das Lektorat anzunehmen scheinen.

Es lässt sich übrigens durchaus etwas dagegen tun, gegen diese Medien- und damit Bilderkonzentration. Schon mal von A Democracy of Photographs gehört? Bei diesem Projekt konnten „Fotografen jeden Alters, jeden Könnens, jeder Kultur“ teilnehmen. „Ihre Bilder wurden nicht ausgewählt, sondern alle im gleichen Format abgezogen und ohne Nennung des Namens in derselben Art und Weise ausgestellt.“

Der zweite Teil dieses Essays beschäftigt sich, hauptsächlich anhand der Iwojima Flagge und derjenigen der Feuerwehrmänner von Ground Zero, mit der weltweiten „Verbreitung des Hollywood-Gedächtnisses“. Dabei legt der Autor dar, wie „die Standardisierung des visuellen Angebots“ auch auf der Ebene der Geschichte passiert. Möge dieser Essay dazu beitragen, dass wir auf solche Propaganda nicht hereinfallen.

Clément Chéroux

Diplopie
Bildpolitik des 11. September
Konstanz University Press, Konstanz 2011

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