Für mich sind die Bilder des 1923 in Wien als Sohn eines Zahnarztes und einer Konzertpianistin geborenen Erich Lessing eine Entdeckung, mir waren der Mann und sein Werk bisher nicht bekannt.
In Anderswo finden sich Aufnahmen vom Ungarn-Aufstand 1956 sowie aus Wien und Prag, aus Polen, Deutschland, der Türkei und und und. Es seien Dokumente von tiefer Menschlichkeit, bestechend durch das Zusammenspiel von Momentbeobachtung und Komposition, lese ich im Klappentext. Nun ja, so recht eigentlich ist doch jedes Foto ein "Zusammenspiel von Momentbeobachtung und Komposition", doch glaube ich zu erahnen, was mit der tiefen Menschlichkeit gemeint ist. Jedenfalls berühren mich Lessings Bilder sehr und tun es jedesmal von Neuem, wenn ich zu diesem Band greife.
Verstehen sei ein Gefühl, habe ich bei Robert Adams gelesen. Viele der Aufnahmen in Anderswo lösen in mir sehnsüchtige und auch melancholische Gefühle aus. Das mag zum Teil an den Sujets liegen, doch möglicherweise eben auch daran, dass zum Beispiel das obige Titelbild vom Wiener Westbahnhof im Jahr meiner Geburt aufgenommen worden ist.
Dem Herausgeber Thomas Reche ist aufgefallen, "dass kaum eine der in diesem Band aufgenommenen Personen in die Kamera lächelt, wie es inzwischen längst auch bei Kindern auf Wunsch der Erwachsenen üblich geworden ist, weil man 'positive' Erinnerungsbilder von sich erzeugen und hinterlassen möchte." Das mag auch kulturelle Gründe haben. Letzthin vernahm ich, dass es in Georgien auch heutzutage nicht üblich sei, in die Kamera zu lachen.
Es sind mehrheitlich Alltagssituationen aus der Nachkriegszeit, die in Anderswo abgebildet sind, doch findet sich in dem Band auch etwas zu der Zeit ganz Neues und Ungewöhnliches: Aufnahmen von Polens erster Miss-Wahl im Seebad Sopot, zu der sich Tausende einfanden. "Auf einmal war man in einer anderen Welt, es war kein kommunistisches Regime mehr."
In Zeiten. in denen wir tagtäglich von Flüchtlingsschicksalen lesen und sehr oft mit Bildern von ganz vielen Menschen zusammengepfercht auf einem Boot konfrontiert werden, ist es besonders aufwühlend, Lessings Aufnahmen von mehrheitlich einzelnen Flüchtlingen im türkischen Edirne zu betrachten, weil sie eindrücklich das Verlorensein dieser Menschen vor Augen führen.
Anderswo gehört zu den seltenen Fotobüchern, bei denen sich Bilder wie auch die diese erläuternden Texte durch grosses Einfühlungsvermögen auszeichnen.
"Photographie ist für mich ein wunderbares Medium, um zu reisen und Menschen kennenzulernen. Sie ist aber nicht der Hauptinhalt des Lebens. Der Hauptinhalt des Lebens ist leben. Die meisten Photographen sehen die Welt immer nur durch den Sucher", wird Erich Lessing zitiert. An vielen Orten hat er dabei Stimmungen eingefangen – die mir liebsten, an Filmszenen gemahnend, im norwegischen Tromsö – , die Herausgeber Reche treffend mit "Leben fixieren und bewahren" bezeichnet hat. Schön, dass es diesen Band gibt, er hilft auf behutsame Art und Weise, uns an das Geschenk des Augenblicks zu erinnern.
Erich Lessing
Anderswo
Nimbus Verlag, Wädenswil 2014
Verstehen sei ein Gefühl, habe ich bei Robert Adams gelesen. Viele der Aufnahmen in Anderswo lösen in mir sehnsüchtige und auch melancholische Gefühle aus. Das mag zum Teil an den Sujets liegen, doch möglicherweise eben auch daran, dass zum Beispiel das obige Titelbild vom Wiener Westbahnhof im Jahr meiner Geburt aufgenommen worden ist.
Dem Herausgeber Thomas Reche ist aufgefallen, "dass kaum eine der in diesem Band aufgenommenen Personen in die Kamera lächelt, wie es inzwischen längst auch bei Kindern auf Wunsch der Erwachsenen üblich geworden ist, weil man 'positive' Erinnerungsbilder von sich erzeugen und hinterlassen möchte." Das mag auch kulturelle Gründe haben. Letzthin vernahm ich, dass es in Georgien auch heutzutage nicht üblich sei, in die Kamera zu lachen.
Es sind mehrheitlich Alltagssituationen aus der Nachkriegszeit, die in Anderswo abgebildet sind, doch findet sich in dem Band auch etwas zu der Zeit ganz Neues und Ungewöhnliches: Aufnahmen von Polens erster Miss-Wahl im Seebad Sopot, zu der sich Tausende einfanden. "Auf einmal war man in einer anderen Welt, es war kein kommunistisches Regime mehr."
In Zeiten. in denen wir tagtäglich von Flüchtlingsschicksalen lesen und sehr oft mit Bildern von ganz vielen Menschen zusammengepfercht auf einem Boot konfrontiert werden, ist es besonders aufwühlend, Lessings Aufnahmen von mehrheitlich einzelnen Flüchtlingen im türkischen Edirne zu betrachten, weil sie eindrücklich das Verlorensein dieser Menschen vor Augen führen.
Anderswo gehört zu den seltenen Fotobüchern, bei denen sich Bilder wie auch die diese erläuternden Texte durch grosses Einfühlungsvermögen auszeichnen.
"Photographie ist für mich ein wunderbares Medium, um zu reisen und Menschen kennenzulernen. Sie ist aber nicht der Hauptinhalt des Lebens. Der Hauptinhalt des Lebens ist leben. Die meisten Photographen sehen die Welt immer nur durch den Sucher", wird Erich Lessing zitiert. An vielen Orten hat er dabei Stimmungen eingefangen – die mir liebsten, an Filmszenen gemahnend, im norwegischen Tromsö – , die Herausgeber Reche treffend mit "Leben fixieren und bewahren" bezeichnet hat. Schön, dass es diesen Band gibt, er hilft auf behutsame Art und Weise, uns an das Geschenk des Augenblicks zu erinnern.
Erich Lessing
Anderswo
Nimbus Verlag, Wädenswil 2014
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