Der Titel sagt es, Südgeorgien liegt, ganz entgegen meiner spontanen Vorderasien-Annahme, in der Antarktis. Es ist ein Inselgebiet im Südatlantik und befindet sich etwa 1 400 Kilometer östlich der Falklandinseln. Kicki Ericson (geb. 1964), Architektin mit Spezialgebiet Denkmalschutz, und Thies Matzen (geb. 1956), Bootsbauer und Fotograf, haben 26 Monate dort verbracht. Wie es ihnen dabei ergangen ist schildert Antarktische Wildnis, ein spektakulärer Bildband mit aufschlussreichen Texten.
Mich lassen diese Bilder Urgewalten erahnen, denen ich in der sogenannt zivilisierten Welt kaum einmal ausgesetzt bin. Das liegt zweifellos an den beeindruckenden und bewegenden Szenen, die Thies Matzen eingefangen hat. Doch es liegt natürlich auch daran, dass ich sie in einem Zeitpunkt meines Lebens betrachte, in dem Naturgewalten einen anderen Stellenwert haben als in den Lebensphasen, in denen mich vor allem die täglichen Eitelkeiten, meine eigenen und die von anderen, beschäftigt haben.
Die Fotos in diesem Band tun mir gut. Weil sie mich von mir weg bringen, und mir zeigen, dass es da eine Welt gibt, mit der zu beschäftigen der Seele gut tut. Das Foto auf den Seiten 92/93 zum Beispiel, das schneebedeckte Berge und davor sich gruppierende Pinguine zeigt. Und von diesem, mich sehr anrührenden Text vom 8. Mai 2009 begleitet ist: "Kicki und ich fühlen uns wohl in diesem Südgeorgien, bleiben drinnen, wenn wir wollen, suchen die Sonne, wenn sie lockt, niemandem schuldig, nirgends eingeladen, nirgends ein Ja oder ein Nein, einfach Lesen, einfach Hören, einfach Sehen, nichts als Unbemenschtes, den zweiten Winter in Folge. Angst, dass der Winter viel zu kurz sein könnte, diese Einsiedelei schnell zerrissen."
Berge, Gletscher und Buchten sind zu sehen sowie riesige Populationen von Pinguinen, Robben und Seevögeln. Menschen hingegen, ausser den beiden Autoren, nicht. Trotzdem sei dies nicht etwa "das Ende der Welt", schreibt Herausgeber Nikolaus Gelpke: "Wer die Bilder betrachtet und die Erhabenheit der Natur auf sich wirken lässt, mag eher den Anfang der Welt assoziieren ...".
Höchst aufschlussreich auch, wie das, was uns gezeigt wird, kontextualisiert wird: "Alles hier ist Tiere, wir gliedern uns in ihren Haushalt, als Hörende, mit einer ähnlichen Verwundbarkeit, auch wenn die nicht unmittelbar für uns als Lebende gelten mag, sondern eher als Besitzende.
1976: vier Milliarden Menschen, als ich das Gymnasium verliess.
1987: fünf Milliarden Menschen, als ich von Europa wegsegelte.
1999: sechs Milliarden Menschen, als wir in Südgeorgien heirateten.
2009: sieben Milliarden Menschen, und wir sind hier allein."
Dieser Text steht übrigens neben einer Aufnahme, auf der hunderte von Pinguinen zu sehen sind.
Es ist das Wesen von Fotos, dass sie etwas zeigen, das einmal war und jetzt nicht mehr ist. Das ist uns meist vage bewusst, doch eben häufig auch nicht, weshalb ich denn auch besonders davon angetan war, auf das, was man nicht sieht, hingewiesen zu werden. "Gestern brillantester Sonnenschein, jetzt das bislang grässlichste Wetter ... Wie schnell auch meine Stimmung schwankt. Gestern war ich unbeschwert, geniessend, warm. Heute fühle ich mich ausgesetzt, bedroht, unzulänglich."
Antarktische Wildnis ist nicht nur ein prachtvoller Bildband, sondern auch ein schön gemachtes, höchst informatives und zur Kontemplation einladendes Buch. Schade nur, dass die Texte in einem wenig scharfen Grau (und manchmal sogar noch auf einer grauen Grundlage) präsentiert werden. Das ist zwar ästhetisch ansprechend, leserfreundlich ist es nicht.
Antarktische Wildnis
Südgeorgien
Fotografien von Thies Matzen
Herausgegeben von Nikolaus Gelpke
Text von Thies Matzen und Kicki Ericson
Mare Verlag, Hamburg 2014
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