Der 1947 in New York geborene Stephen Shore ist mir durch seinen eindrücklichen Band Das Wesen der Fotografie. Ein Elementarbuch ein Begriff. Fotografien, habe ich in meiner Rezension aus dem Jahre 2011 geschrieben, "faszinieren uns nicht zuletzt auch deshalb, weil sie uns wirklich vorkommen, sie den Anschein geben, die Realität abzubilden. Den Unterschied zwischen Realität und fotografischer Realität illustriert Stephen Shore überzeugend damit: 'Die Wirklichkeit ist ein Mensch, der 'Cheese' sagt. Die Kamera, die dies als stummer Zeuge erfasst, zeigt einen Menschen, der lächelt.'"
Der nun vorliegenden Retrospektive ist ein langes und höchst aufschlussreiches Interview mit David Campany beigegeben, wo man unter anderem erfährt, dass Shore ein eigentlicher Frühzünder gewesen ist und bereits im zarten Alter von 6 Jahren sich mit der chemischen Seite der Fotografie beschäftigte. Nach zwei Jahren Arbeit in der Dunkelkammer (er hatte grossen Spass daran, Abzüge zu machen), begann er selber zu fotografieren.
Zu seinem zehnten Geburtstag, schenkte ihm ein Nachbar, der Leiter eines Musikverlags war, Walker Evans' Buch American Photographs. Evans sei ein wichtiger Einfluss gewesen, so Shore, im Laufe der Jahre habe er zudem eine Verwandschaft erkannt. "Und in gewisser Weise geht die Verwandtschaft jeglichem Einfluss voraus."
Über John Szarkowski, den 2007 verstorbenen langjährigen Direktor des Department of Photography des MoMA, sagt Shore: "Ich glaube, dass er mehr als irgendjemand sonst mein Lehrer gewesen ist." Möglicherweise hatte ich das ja gespürt, jedenfalls schrieb ich in meiner bereits erwähnten Rezension: "Seine Sprache (und seine Art zu denken) hat mich an die Texte des von mir sehr geschätzten John Szarkowski erinnert."
Talent genüge nicht für den fotografischen Erfolg, so Shore, man brauche auch Ehrgeiz. "Ich glaube, ich erfüllte den Punkt mit dem Ehrgeiz, indem ich mich im Alter von 14 Jahren an Steichen gewandt habe."
Jeder, der sich mit Fotografie beschäftigt, weiss um die zentrale Rolle des Lichts. Für Shore ist der eigentlich fast ständig blaue Himmel im Südwesten der USA (der, wie er sagt, einem Amerikaner gar nicht auffallen würde) deshalb attraktiv, weil er ihm mentale Klarheit vermittelt.
Bei Retrospektive handelt es sich um den Katalog zur Stephen Shore Ausstellung der FUNDACIÓN MAPFRE, deren Präsident Antonio Huertes Mejás im Vorwort festhält, die Stiftung lege "besonderes Augenmerk auf international hochgeschätzte Fotografen, denen jedoch in Spanien noch keine grosse Retrospektive gewidmet wurde". Das nun vorliegende Buch gibt nun auch denen Gelegenheit, sich mit Stephen Shores Werk zu beschäftigen, die die Ausstellung verpasst haben.
Der Titel von von Marta Dahós Essay "Stephen Shore. Die Paradoxa der Transparenz" lässt mich bereits erahnen, dass ich mit dem Text wohl so meine Mühe haben werde – und so ist es denn auch, schon nach wenigen Absätzen gebe ich auf. Zur Illustration: "Die Art, wie wir heute Projekte von Stephen Shore verstehen und bewerten, etwa American Surfaces und Uncommon Places, die im Epizentrum des Wandels der fotografischen Praxis der Siebzigerjahre standen, ist logischerweise eine andere als jene, die zur Zeit ihres Bekanntwerdens vorherrschte, und die Historizität der Interpretationen sollte unbedingt berücksichtigt werden. Shores Arbeit brach damals in die bestehenden stilistischen Konventionen und Themen ein und erweiterte das Feld für neue Wege des Erforschens, die heute zu so gängigen Mitteln geworden sind, dass sie wiederum neuen Konventionen und Thematiken Vorschub leisten, die es zu dekonstruieren gälte." Dann wünsche ich fröhliches Dekonstruieren!
Zu sehen sind unter anderen frühe Schwarz-Weiss-Aufnahmen, farbige Bilder aus Amarillo, Texas, die bereits erwähnten American Surfaces sowie Uncommon Places. Ganz speziell angesprochen haben mich die Aufnahmen aus Winslow, Arizona, auch weil sie bei mir ähnliche Gefühle auslösen wie die Bilder von Edward Hopper. Und dann gibt es da auch noch mich sehr berührende Aufnahmen aus der Ukraine ("Durch Teile der Ukraine zu fahren ist, wie durch Iowa zu fahren. Mais- und Getreidefelder, Sonnenblumenfelder, so weit das Auge reicht. Jeder wollte sie. Stalin wollte sie um die Sowjetunion zu ernähren. Hitler wollte sie, um die Ukrainer zu vertreiben und deutsche Bauern anzusiedeln", so Shore im Interview). Sandra S. Philips weist darauf hin, dass man bei diesen Fotos spüren könne, dass Shore mit Walker Evans vertraut sei, findet sie jedoch im Ton wärmer als die von Evans. Ich selber bin mir da nicht so sicher ...
Stephen Shore
Retrospektive
FUNDACIÓN MAPFRE
Kehrer Verlag, Heidelberg 2014
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