Wednesday, 14 November 2018

Teju Cole: Blinder Fleck

Diesem interessant gestalteten Band - einzelne Fotos füllen die ganze Seite, andere nur einen Teil und noch andere erstrecken sich auf die gegenüberliegende Seite – ist ein Vorwort von Siri Hustvedt vorangestellt, das wie folgt beginnt: "Im menschlichen Auge gibt es wie in den Augen anderer Wirbeltiere einen blinden Fleck, der dort liegt, wo die Netzhaut in den Sehnerv übergeht. In diesem Areal, der Sehnervenpapille, fehlen lichtempfindliche Sinneszellen und werden keine optischen Reize weitergeleitet. Eigentlich müssten wir diesen Ausfall im Gesichtsfeld bemerken – er hat ungefähr die Grösse einer Orange, die wir am ausgestreckten Arm von uns weghalten. Und doch laufen normalsichtige Menschen nicht mit Sehlücken durch die Welt. Irgendwie wird das Fehlende ergänzt, doch bis heute wissen wir nicht, wie das genau geschieht (…) vieles spricht dafür, dass Wahrnehmung kein passiver Vorgang ist – dass wir die Welt nicht nur aufnehmen, sondern auch gestalten und dass Lernen dazu beiträgt."

Brienzersee 2014

Blinder Fleck versammelt mehr als 150 Fotografien aus ganz vielen Ländern – offenbar sitzt der Autor und Fotograf Teju Cole ständig im Flugzeug – , die von Texten ergänzt werden. "Und während seine Bilder etwas Konkretes dokumentieren, wird zugleich etwas sichtbar, was das Auge nicht erfasst", lese ich in der Pressemitteilung. Nehmen wir das obige Bild, das mich dazu einlädt, das Schiffshorn in Aktion zu hören. Der Text dazu lautet: "Ich öffnete die Augen. Was vor mir lag, sah aus wie der Klang des Alphorns zu Beginn des letzten Satzes der ersten Symphonie von Brahms. Das war er, der Sound, den ich sah."

Im Gegensatz zum gerade erwähnten, beziehen sich die meisten Texte nicht auf das Bild, dem sie beigestellt sind und muten zum Teil surreal an. So schreibt Cole zum Bild einer schwarzen Schere auf einer weissen Tischplatte: "Hält die Gewalt in petto. Ist symmetrisch, wie fast alle Wirbeltiere. Ist sogar zweibeinig, wie das Tier, das sich aufrichtet, das Tier, das Fremde betrauern kann. Suggestionskraft ist der Schlüssel zum Surrealismus. Plötzlich zum Atmen hochkommend wie der Wal zum Blasen, schwebt das surreale Objekt hinter oder über (sur) einer Realität, unterhalb deren zu bleiben wir von ihm eher erwartet hätten. Die Schere ist eine Maske ohne Gesicht."
Zürich 2014

Gerne hätte ich gewusst, wo in Zürich er diese Globus-Versammlung gesehen hat. Angaben dazu fehlen – wie auch bei den anderen Aufnahmen. Fotografisch bemerkenswert finde ich weder die Fotos noch was sie zeigen (es gibt Ausnahmen) und so recht eigentlich hätten sie fast überall auf der Welt gemacht werden können. Für Teju Cole sind sie Auslöser, "visuelle Rorschachs", wie meine Freundin Emelle Sonh, Fotografin in San Francisco, Fotos einmal genannt hat. Zum obigen Bild notiert er: "Von der Küche ins Wohnzimmer. Vom Schlafzimmer ins Bad. Die Treppe runter, um die Post zu holen. Vom Haus zur U-Bahn. Ein Abendspaziergang. Wir legen jeden Tag etwa 7500 Schritte zurück. Wenn wir achtzig Jahre alt werden, Inschallah, macht das im Laufe des Lebens 200 Millionen Schritte, hundertsechzigtausend Kilometer. Wir halten uns nicht für Vielgeher, werden aber die Erde viermal zu Fuss umrundet haben. Die Treppe hinunter, um die Post zu holen. Mit der Wäsche in den Keller. Vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Mitten in der Nacht hoch, um ein Glas Wasser zu trinken Und auf unseren Wanderungen durchs dunkle Haus halten wir plötzlich inne, wenn wir an jemanden denken, den oder die wir einst geliebt haben."

Blinder Fleck ist ein eigenartiges Buch, mein Verhältnis dazu ambivalent. Einzelne Bilder (etwa das auf dem Umschlag, der Farben und der Komposition wegen) sprechen mich sofort, andere berühren mich überhaupt nicht. Ebenso geht es mir mit den Texten. Teju Coles Projekt sei ein phänomenologisches, schreibt Siri Hustvedt im Vorwort. "Es ist die Erforschung des Verhältnisses zwischen dem körperlichen Bewusstsein und der sichtbaren Welt." Was auch immer das heissen mag, mir jedenfalls sind diese Texte und Bilder willkommene Auslöser für das Mich-Wundern-über-die-Welt.

Teju Cole
Blinder Fleck
Hanser Berlin 2018

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