Wednesday, 12 December 2018

Karlheinz Weinberger oder die Ballade von Jim

Manchmal kriege ich von Verlagen Bücher zugeschickt, von denen sie annehmen, dass ich sie besprechen werde. Manchmal treffen sie meinen Geschmack, manchmal nicht. Und manchmal weisen sie mich auf etwas hin, worauf ich selber gar nicht gekommen wäre, mich aber sofort davon angezogen fühle. So geschehen bei Patrik Schedlers Karlheinz Weinberger oder Die Ballade von Jim. Und das überrascht mich, denn weder ist mir der Fotograf Karlheinz Weinberger ein Begriff, noch kann ich mit seinen Vorlieben etwas anfangen und auch zur Zürcher Schwulen-Szene habe ich keinen Bezug.

Karlheinz Weinberger (1921-2006) lebte im Zürcher Kreis 4, verdiente sein Geld als Lagerist und fotografierte in seiner Freizeit Halbstarke, Rocker, Biker, Bauarbeiter, Sportler und Tätowierte, lese ich im Klappentext. Und: "Weinbergers fotografisches Schaffen spiegelt sein Leben, seine Homosexualität und seine Faszination für virile Welten wieder." 

"Karlheinz Weinberger erwähnte in Interviews, dass er froh sei, dass er seine Wohnung nicht mehr räumen müsse – ich musste". Mit diesem ganz wunderbaren Satz, der die mitunter mühevolle Arbeit, die vor ihm liegt, gleichsam aufstöhnend einleitet, beginnt Patrik Schedler, der mit Karlheinz Weinberger befreundet war und ihn ab 2000 künstlerisch betreute, diesen Band. Diese Wohnung im vierten Stock an der Elisabethenstrasse beim Tramdepot an der Kalkbreite sei von zentraler Bedeutung für Weinbergers Werk, nicht nur, weil viele seiner Fotografien da entstanden sind, sondern auch, weil sie für viele seiner Modelle zu einem Zufluchtsort wurde.

Ich las diesen Band einerseits als Porträt eines ausgesprochen zweigeteilten Mannes (die unspektakuläre Lohnexistenz / der obsessive Fotograf) und andererseits als Sozialgeschichte von Minderheiten in der Stadt Zürich. So begann etwa die Zürcher Sittenpolizei in den 1950ern ein Homosexuellen-Register zu führen, ermordete Homosexuelle wurden von der Presse zu Tätern gemacht, Jeans galten als aufrührerisch und die Halbstarken-Bewegung als staatsgefährdend.

"Weinberger hat die Halbstarken durch seine Bilder zu dem gemacht, was sie sein wollten und was sie haben wollten: unterscheidbar zu sein und eine eigene und freie Existenz zu haben." Treffend konstatiert der Autor: "Die Aussage, das Bild erschaffe Wirklichkeit, ist nicht bloss eine philosophische Floskel, sondern eine Tatsache."

Auch dass alles zusammen hängt, dass Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf eine Art verknüpft sind, die wir selten wahrnehmen, geschweige denn verstehen, ist eine Tatsache. So nahm etwa Patrik Schedlers Vater den kleinen Jungen oft mit nach Zürich, wo er die Werkstatt eines Clicheurs aufsuchte, die sich hinter Weinbergers Haus befand und der mittlerweile Erwachsene fragt nun. "Nachträgliche Konstruktion einer Schicksalsfügung?" Wieso Konstruktion? So ist es doch gewesen!

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein solches Porträt interpretativ ist. Für mein Empfinden tut der Autor dabei gelegentlich allerdings zu viel des Guten. Wenn er etwa schreibt, Weinberger sei keineswegs, wie seine Anstellung als Lagerist suggerieren könnte, ein Biedermann gewesen. "Sein äusserliches Leben war Camouflage. Er wiederholte immer wieder, dass sein Leben am Freitagabend begonnen und am Montagmorgen wieder zu Ende gewesen sei." Was soll das denn anderes sein als die fast schon klassische Definition eines Biedermanns? Schedler sieht das ganz anders: "Das Leben als gewöhnlicher Arbeiter war die Tarnung und die Ermöglichungsbedingung für das Leben als Künstler, und diese Camouflage war derart gut, dass sie über seine Pensionierung, ja sogar über seinen Tod hinaus wirkte." Für mich klingt das etwas arg nach posthumer Glorifizierung.

Fazit: Erhellend und instruktiv.

Patrik Schedler
Karlheinz Weinberger oder Die Ballade von Jim
Limmat Verlag, Zürich 2018

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