„Vielleicht irre ich mich, aber wenn
ich sehe, wie ein Kind gehen lernt, wird mir klar, dass die Freude,
es zu entdecken und es zu beherrschen, die stärkste Kraft ist, die
es gibt. Einen Fuss vor den anderen zu setzen, Grenzen zu erforschen
und zu überschreiten, liegt in unserer Natur. Wir beginnen nicht
nur, auf Entdeckungsreisen zu gehen, wir hören auch nicht mehr damit
auf.“
Erling Kagge ist kurze und lange
Strecken gegangen, in der Natur und in Städten, manchmal hat er sich
dabei gelangweilt, manchmal sich gefreut. Und weil Gehen bedeutet,
sich Zeit zu nehmen, hat er dabei sich selber und die Welt um sich
herum auch wirklich wahrgenommen. „Denn ich begreife nicht und
werde niemals begreifen, dass es ein Vergnügen sein kann, so an
allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Erde aufweist,
vorüberzurasen, als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um
nicht elend zu verzweifeln“, zitiert er Robert Walser.
Mit zwei Freunden beschliesst er zur
Fuss durch Los Angeles zu gehen. Sie sehen kaum Bäume, dafür aber
unfassbar viele Maniküre-Salons („wir hatten den Eindruck, dass
die eine Hälfte der Einwohner der anderen Hälfte die Nägel
poliert“), Drogenkonsumenten und Bauprojekte. Auch durch die
Strassen Dublins wandert er, auf den Spuren von Joyces 'Ulysses' ,
angeleitet von Nabokov, und die Juan-Fernández-Inseln vor Chile, auf
der Daniel Defoes 'Robinson Crusoe' spielt, besucht er.
Erling Kagge sortiert seine Gedanken,
während er geht, bringt etwas Ordnung in das Chaos in seinem Kopf.
Ich erlebe das ähnlich. Wenn ich zum Beispiel mit einem Text nicht
weiter komme, lösen sich durch das Gehen die festgefahrenen
Gedankenverbindungen oft auf und setzen sich neu zusammen.
Gehen. Weiter Gehen
versammelt persönliche Erfahrungen, Erlebnisse von Freunden und
Bekannten, Erkenntnisse von Soziologen, Psychologen und Hirnforschern
und – der Autor ist von Beruf Verleger, ein sehr belesener – ganz
viele Verweise auf die Gedanken von Schriftstellern, die sich mit dem
Gehen auseinandergesetzt haben, von Tomas Espedal über W.G. Sebald
zu Antonio Machado.
Das Schöne an
diesem Band ist unter anderem, dass er einem ganz vielfältige
Anregungen gibt. Wer hat schon einmal die verschiedenen Teile seiner
Heimatstadt zu Fuss erkundet? Oder den Baum vor dem Haus genauer
betrachtet? Darüber hinaus ist Gehen. Weiter Gehen sehr instruktiv. „Füsse haben
eine starke und komplexe mechanische Struktur. Mit ihren
sechsundzwanzig Knochen, dreiunddreissig Gelenken und mehr als
einhundert Sehnen, Muskeln und Gelenkbändern halten die Füsse den
Körper aufrecht und im Gleichgewicht.“
Wenn wir gehen, ist
der ganze Mensch miteinbezogen. Die gängige Trennung in Kopf und
Körper ist irreführend. Gemäss dem Philosophen Maurice
Merleau-Ponty (und die Hirnforschung hat das bestätigt) erkennen, erinnern und reflektieren wir auch mit Zehen,
Füssen, Beinen, Armen, Bauch, Brust und Schultern. Nicht nur mit dem
Kopf und der Seele, auf die Sokrates Wert gelegt hat.
„Zu sein heisst nicht nur, in
der Welt zu sein, wie es Steine sind, sondern sich zur Welt zu
verhalten. Wir Menschen, betont Heidegger, müssen bereit sein,
Bürden auf uns zu nehmen, um frei zu sein. Entscheidet man sich für
den Weg des geringsten Widerstands, wird diese Alternative, die auf
den ersten Blick die wenigsten Probleme mit sich bringt, immer
Vorrang haben. Dann ist die Wahl vorherbestimmt, und man lebt nicht
nur ein unfreies, sondern auch ein langweiliges Leben.“
Wie wir gehen, können wir
beeinflussen. Versuchen wir bewusst zu gehen, merken wir, dass das
ganz schön schwierig ist, weil unser Hirn – ein Wald voll wilder
Affen – sich nicht gerne reinreden lässt. Dass und wie sich das Gehen-Üben lohnt,
zeigt Erling Kagge eindrücklich.
Erling Kagge
Gehen. Weiter Gehen
Insel Verlag, Berlin 2018
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