"Mit Aenne Biermann: 60 Fotos wird nun ein weiteres fotogeschichtlich bedeutsames Werk in authentischer Fassung wieder aufgelegt", lese ich in den Anmerkungen von Hans-Michael Koetzle, die dieses eigenartige Zitat (aus Das Magazin vom August 1931) als Titel tragen: "Behutsam fasst sie die Dinge an, die ihre Augen sehen". Wie soll das bloss gehen? Sie fotografiert doch, was ihre Augen sehen, sie bildet diese Dinge ab. Zugegeben, Metaphorik ist nicht mein Ding, überhaupt nicht; Zuschreibungen auch nicht. Und schon gar nicht bei einer der Neuen Sachlichkeit (nüchtern, realistisch, 'objektiv', gleichsam wissenschaftlich) verpflichteten Fotografin.
Aenne Biermann wurde 1898 als Anna Sibylla Sternefeld in Goch am Niederrhein geboren. Sie entstammte einem begüterten jüdischen Elternaus, heiratete Herbert Biermann, der zusammen mit seinem Bruder ein florierendes Textilkaufhaus führte und lebte ein privilegiertes Leben mit ausreichend Personal und viel freier Zeit. Als Fotografin war und blieb sie Autodidaktin. Sie starb mit 34 Jahren, vermutlich an einem Leberleiden.
Die Breite ihres Schaffens reicht von Landschaftsstudien zu Strassenszenen, von arrangierten Objektiven zu Pflanzenstudien, von Porträts (inklusive Akte) bis zu Aufnahmen ihrer Kinder. Besonders eindrücklich sind dabei ihre häufig ungewöhnlichen Perspektiven.
Der detailreiche Text von Hans-Michael Koetzle, eine beeindruckende Fleissarbeit, wird ergänzt durch einen Vorspann von Franz Rohs Essay Der literarische Foto-Streit, der jedoch keinen Bezug zu den Fotografien in diesem Band nimmt und sich mit "Thesen und Gegenthesen zum Thema 'Mechanismus und Ausdruck'" beschäftigt.
Erwähnt seien eine der Thesen: "Die freiheitlichen Möglichkeiten (gegenüber der Grafik) sind so gering und festgelegt, dass sie niemals genügen können, um ausdruckerfüllte Gebilde zu rzeugen" sowie die Gegenthese: "Die Menschheit überschätzt meist die geringe Zahl von freiheitlichen Möglichkeiten fester Mittel, die bereits genügen, um Individuation und wirkliche Gestaltung zu verbürgen. (Beispiel aus ganz anderer Zone: Welch simpler, festgelegter Apparat ist das Klavier mit seinen immer wiederkehrenden Oktaven, und wieviel individualisierte Gestaltung ist hier möglich!)"
"Facettenreich" nennt Hans-Michael Koetzle das Werk von Aenne Biermann. Das trifft es meines Erachtens gut. Mir scheint auch, sie habe mittels der Kamera ihr Sehen geübt. Nicht zuletzt deswegen lohnt eine Beschäftigung mit ihren Fotografien auch heute noch.
Aenne Biermann
60 Fotos
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2019
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