Der ehemalige ARD-Korrespondent Udo Lielischkies
ist in dem Riesenland Russland viel herumgekommen, seine Familie (seine Frau
Katia, gebürtige Russin, und die beiden Töchter) kennt vor allem
die Perspektive der Grossstädte. Moskau sei „ein vom Rest des
Landes abgekoppeltes Raumschiff, das Zentrum strahlend, glitzernd,
ein filmreifes Panoptikum neureicher Selbstdarstellung“, erfahre
ich. Und dass der Satz von Churchill immer noch gelte: „Russland
ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem
Mysterium.“
Als
ich lese, dass in Putins Russland Loyalität und Selbstbereicherung
eng miteinander verwoben seien, musste ich an Trumps Amerika denken.
Ebenso bei der Schilderung des Chefs der Nationalgarde, der offenbar
wie ein Mafiaboss klingt, drängte sich das Grossmaul im Weissen Haus
in mein Bewusstsein. Auch dass sich die Russen als auserwähltes Volk
betrachten, kenne ich von den Amerikanern. Und den Chinesen, den
Franzosen und und und ... Nationalstaaten orientieren sich an Mythen;
die Menschen ziehen diese der Realität vor. Sieht es also überall auf
der Welt gleich aus? Ja und nein, doch natürlich gibt es
Unterschiede, Udo Lielischkies benennt viele von ihnen. Einer davon
ist der russische Unrechtsstaat. „Ich weiss, dass
russische Gerichte über 99 Prozent aller Angeklagten schuldig
sprechen. Dass Verteidiger mit Staatsanwälten zusammenarbeiten und
ihre Mandanten betrügen.“
Udo Lielischkies startet in sein
Russland-Abenteuer wie das Korrespondenten so tun: Mit sehr
rudimentären Sprach- und Landeskenntnissen. Qualifiziert hat er sich
für diese Stelle, weil er sich für die ARD als verlässlich
erwiesen hat, er in ihr System passt. Dass ist bei allen Medien, ja,
bei allen international operierenden Organisationen so – nicht die
Sachkenntnis ist gefragt, sondern dass das bestehende System weiter
funktioniert wie bisher.
Der Neuling merkt schnell, dass, was man so über Russland hört, Realität ist – dieses Land ist in vielerlei Hinsicht anders als man es für möglich hält, genauer: Regeln, die man gemeinhin für selbstverständlich hält, sind es in diesem Land nicht. Die überaus anschaulichen Beispiele in diesem spannenden Buch zeugen davon – es ist eine Reise in eine Welt, die wohl niemand auch nur annähernd verstehen kann, der nicht da geboren und aufgewachsen ist. Und selbst dann ist es fraglich.
1999 kam Putin an die Macht. Die eindrückliche Schilderung, wie dies geschah, lohnt schon alleine die Lektüre von Im Schatten des Kreml, auch weil davon auszugehen ist, dass staatliches Mitmischen bei der Herstellung von Krisen, die dann unter Einsatz drastischer Mittel gelöst werden müssen, nicht nur in Russland gang und gäbe sind. Apropos drastische Mittel: Diese scheinen gängig in Putins Russland – Gegner werden als Terroristen bezeichnet, mit denen nicht verhandelt wird. Dass auch zu Vergiftungen gegriffen wird, um mit sogenannt missliebigen Bürgern (und Bürgerinnen) klarzukommen, scheint gängige Praxis.
Auf mich wirkt dieses Russland schon in Friedenszeiten ausgesprochen chaotisch, kommt dann noch ein Krieg dazu, wie vor mittlerweile zwanzig Jahren in Tschetschenien, wird es noch um einiges chaotischer und man kann sich fragen, ob da eine nüchterne Einschätzung überhaupt möglich ist. Ich fühlte mich bei den Erkundungsfahrten der ARD-Equipe gelegentlich an meine Zeit beim IKRK in Afrika erinnert, wo mein lokaler Mitarbeiter und ich selber oft nicht wussten, wo wir überhaupt waren – obgleich wir als die Experten vor Ort galten.
Entführungen mit Lösegeldforderungen als Geschäftsmodell, Folter im Vollzugssystem, Arbeitslager für geringfügige Vergehen – Russland unter Putins sogenannt gelenkter Demokratie (im Klartext: die Herrschaft einer Clique) hat mit europäischen Vorstellungen von Zivilisation wenig zu tun. Es braucht eine Lebenskünstler-Mentalität, um in solchen Verhältnissen zu überleben. Auch auf dem Dorf, wo gerade einmal 30 Prozent eine Arbeit haben und die Kombination Elend und Alkohol nach wie vor Tradition hat.
Was wir von der Welt wissen, wissen wir von den Medien, hat Niklas Luhmann einmal geschrieben. Mit anderen Worten: Wer nicht versteht, wie die Medien funktionieren, kann die Welt nicht verstehen. Die Schwierigkeiten aus und über Russland zu berichten sind mannigfaltig, weshalb mich denn auch die Schilderung der journalistischen Arbeitsbedingungen (Kontrollen, Behinderungen, Irreführungen, Propaganda etc. sind an der Tagesordnung) besonders aufschlussreich dünkte. Wer glaubt, die Wirklichkeit liesse sich medial abbilden, irrt. Und zwar gewaltig. Bemühen kann und soll man sich trotzdem, wobei: Enthüllungen bezahlen Journalisten in diesem Land häufig mit ihrem Leben.
So aufrichtig wie möglich davon zu berichten, wie man die Realität erlebt (natürlich subjektiv, objektives Erleben ist bis jetzt nicht erfunden worden), halte ich für den einzigen Journalismus, der seinen Namen verdient. Als Beispiel möge des Autors Kommentar über seine Beslan-Berichterstattung dienen, als eine ganze Schule in Geiselhaft genommen wurde: "Es ist sicher keine Sternstunde des Journalismus. Denn ich schilderte atemlos das Geschehen, beschreibe die aufgeregten Polizisten, Sanitäter, Soldaten, die schreienden Angehörigen, bewaffnete Osseten aus Beslan, die mit Gewehren in Richtung Schulgebäude laufen – doch ohne zu wissen, was sich tatsächlich abspielt."
Was dieses Buch auch klar macht: Man muss in die Welt hinaus, um sich aus seinen Konditionierungen zu befreien. Nur dann haben wir die Chance, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist – meist sehr anders als unsere antrainierten Vorstellungen uns glauben machen.
Udo Lielischkies
Im Schatten des Kreml
Unterwegs in Putins Russland
Droemer, München 2019
1999 kam Putin an die Macht. Die eindrückliche Schilderung, wie dies geschah, lohnt schon alleine die Lektüre von Im Schatten des Kreml, auch weil davon auszugehen ist, dass staatliches Mitmischen bei der Herstellung von Krisen, die dann unter Einsatz drastischer Mittel gelöst werden müssen, nicht nur in Russland gang und gäbe sind. Apropos drastische Mittel: Diese scheinen gängig in Putins Russland – Gegner werden als Terroristen bezeichnet, mit denen nicht verhandelt wird. Dass auch zu Vergiftungen gegriffen wird, um mit sogenannt missliebigen Bürgern (und Bürgerinnen) klarzukommen, scheint gängige Praxis.
Auf mich wirkt dieses Russland schon in Friedenszeiten ausgesprochen chaotisch, kommt dann noch ein Krieg dazu, wie vor mittlerweile zwanzig Jahren in Tschetschenien, wird es noch um einiges chaotischer und man kann sich fragen, ob da eine nüchterne Einschätzung überhaupt möglich ist. Ich fühlte mich bei den Erkundungsfahrten der ARD-Equipe gelegentlich an meine Zeit beim IKRK in Afrika erinnert, wo mein lokaler Mitarbeiter und ich selber oft nicht wussten, wo wir überhaupt waren – obgleich wir als die Experten vor Ort galten.
Entführungen mit Lösegeldforderungen als Geschäftsmodell, Folter im Vollzugssystem, Arbeitslager für geringfügige Vergehen – Russland unter Putins sogenannt gelenkter Demokratie (im Klartext: die Herrschaft einer Clique) hat mit europäischen Vorstellungen von Zivilisation wenig zu tun. Es braucht eine Lebenskünstler-Mentalität, um in solchen Verhältnissen zu überleben. Auch auf dem Dorf, wo gerade einmal 30 Prozent eine Arbeit haben und die Kombination Elend und Alkohol nach wie vor Tradition hat.
Was wir von der Welt wissen, wissen wir von den Medien, hat Niklas Luhmann einmal geschrieben. Mit anderen Worten: Wer nicht versteht, wie die Medien funktionieren, kann die Welt nicht verstehen. Die Schwierigkeiten aus und über Russland zu berichten sind mannigfaltig, weshalb mich denn auch die Schilderung der journalistischen Arbeitsbedingungen (Kontrollen, Behinderungen, Irreführungen, Propaganda etc. sind an der Tagesordnung) besonders aufschlussreich dünkte. Wer glaubt, die Wirklichkeit liesse sich medial abbilden, irrt. Und zwar gewaltig. Bemühen kann und soll man sich trotzdem, wobei: Enthüllungen bezahlen Journalisten in diesem Land häufig mit ihrem Leben.
So aufrichtig wie möglich davon zu berichten, wie man die Realität erlebt (natürlich subjektiv, objektives Erleben ist bis jetzt nicht erfunden worden), halte ich für den einzigen Journalismus, der seinen Namen verdient. Als Beispiel möge des Autors Kommentar über seine Beslan-Berichterstattung dienen, als eine ganze Schule in Geiselhaft genommen wurde: "Es ist sicher keine Sternstunde des Journalismus. Denn ich schilderte atemlos das Geschehen, beschreibe die aufgeregten Polizisten, Sanitäter, Soldaten, die schreienden Angehörigen, bewaffnete Osseten aus Beslan, die mit Gewehren in Richtung Schulgebäude laufen – doch ohne zu wissen, was sich tatsächlich abspielt."
Was dieses Buch auch klar macht: Man muss in die Welt hinaus, um sich aus seinen Konditionierungen zu befreien. Nur dann haben wir die Chance, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist – meist sehr anders als unsere antrainierten Vorstellungen uns glauben machen.
Udo Lielischkies
Im Schatten des Kreml
Unterwegs in Putins Russland
Droemer, München 2019
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