"So lasst uns unser Leben begreifend verbringen." Dieser Thoreau-Satz begleitet mich seit meiner Jugend – kein Satz hat mich mehr motiviert und angetrieben, kein Satz mich mehr geprägt beziehungsweise ausgedrückt, was in mir angelegt gewesen ist.
Thoreaus Walden wieder lesend bin ich überrascht wie viel ich auch heute noch genau so sehe wie anno dazumal (die Sätze, die ich in meiner damaligen Ausgabe unterstrichen habe, finde ich grösstenteils auch heute noch die für mich zentralen) – dass sich der Mensch im Laufe seines Lebens entwickelt, scheint in meinem Falle eine Illusion.
Henry David Thoreau war um die dreissig als er zwei Jahre in einer Hütte bei Concord im Staate Massachusetts verbachte und Walden schrieb und unter anderem festhielt. "Das Alter taugt nicht zum Lehrmeister der Jugend, hat es doch weniger gewonnen als engebüsst." Ein Gedanke, den man nicht einfach überlesen sollte, auch wenn ich ihm nicht vollumfänglich zustimmen mag.
Thoreau schreibt von sich, seinen Erfahrungen und Überlegungen. Sehr subjektiv und das ist gut so, denn diese Vorgehensweise ist ehrlich und überdies mutig. Der Mann versteckt sich nicht, er zeigt sich und das macht ihn natürlich auch angreifbar. Nur eben: Wer aufrichtig ist, weiss, dass er keine wirkliche Wahl hat. "Ich würde nicht so viel über mich selber reden, wenn es einen anderen Menschen gäbe, über den ich ebenso gut Bescheid wüsste."
Hier schreibt ein unabhängiger und origineller Geist. "Wer kann sagen, welche Aussichten die Welt einem anderen darbietet? Liesse sich ein grösseres Wunder denken, als sie vorübergehend mit den Augen eines anderen sehen zu können?" Einer, der sich mit Grundsätzlichem auseinandersetzt, sich damit beschäftigt, was den Menschen ausmacht, seine Bestimmung ist. "Die Errungenschaften von Jahrhunderten haben nämlich nur wenig an den Grundgesetzen des Menschendaseins geändert, wie sich wohl auch unser Skelett von dem unserer Urahnen nur wenig unterscheidet."
Ob ich die zustimmende Begeisterung, die mich beim erneuten Leser dieser Aufzeichnungen erfasst, schon bei meiner jugendlichen Lektüre verspürt habe, weiss ich natürlich nicht mehr, doch ich vermute es, denn wenn mir eines beim Älterwerden klar geworden ist, dann dies: dass ich mich emotional kaum verändert habe. Und auch meine Überzeugungen sind sich im Wesentlichen gleich geblieben. "Nur vom Standpunkt der freiwilligen Armut aus kommt einer heutzutage zu uneigennütziger Menschenkenntnis."
Thoreau guckt hin, lässt wirken, reflektiert und kommentiert, gelegentlich auch mit einem Schmunzeln. Über den Sonnenaufgang hält er fest: "Zwar habe ich der Sonne nie wesentlich beim Aufgehen geholfen – aber auch nur dabei zugegen zu sein, war von äusserster Wichtigkeit." Und über die Bohnen, die er "anbaute, behackte, erntete, enthülste, auslas und verkaufte", notierte er: "Auch gegessen habe ich davon, wollte ich doch die Bohnen in jeder Beziehung kennenlernen."
Er liest Klassiker, durchwandert die Geisteswelt, doch vor allem macht er Erfahrungen. "Wie ich so hemdsärmelig das steinige Seeufer entlanggehe, obwohl es kühl, bewölkt und windig ist, und nichts im Besonderen meine Aufmerksamkeit erregt, fühle ich mich allen Elementen ungemein verwandt." Thoreau plädiert für das Zelebrieren des Augenblicks, da wo man gerade ist. "Was bedeutet mir Afrika, was der Wilde Westen? Ist nicht unsere Innenwelt noch ein weisser Fleck auf der Karte?"
Walden ist sowohl Gesellschaftskritik als auch Naturbeobachtung, doch vor allem ist es eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen der menschlichen Existenz. Simplify your life. Not yourself, hat Susanne Ostwald die Essenz seines Denkens in ihrem gescheiten Nachwort auf den Punkt gebracht.
Henry D. Thoreau
Walden
Manesse, München 2020
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