Wednesday, 5 May 2021

Die Globalgeschichte des Menschen

Den Überblick zu haben, die grossen Linien zu verstehen, bedeutet auch, sich in einem grösseren Ganzen zu sehen. Jedenfalls stelle ich mir das so vor bzw. ist dies der Grund für mein Interesse an diesem Buch. Ich lese es mit einer Mischung aus Neugierde und Skepsis, da es meinen Horizont übersteigt, wie jemand ernsthaft glaubt, Aussagen über Ereignisse, die Millionen von Jahren zurückliegen, machen zu können. Doch Autor Laurent Testot weiss, dass viele dieser Annahmen hypothetischer Natur sind. "Festzuhalten bleibt, dass die heute erhaltenen Spuren zu spärlich sind, um eine zusammenhängende Familiensaga der ersten menschlichen Erdbewohner zu erstellen." Zudem hat er Humor (und damit meine Sympathie): "Als flexibler Allesfresser kommt der Mensch in sämtlichen Ökosystemen zurecht."

Die Globalgeschichte des Menschen bietet viel Spannendes, Interessantes und Lehrreiches. So nahm ich etwa mit einiger Verblüffung zur Kenntnis, dass Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus, Hinduismus, Jainismus, Zoroastrismus, Judentum und das  Denken der Griechen zur gleichen Zeit entstanden, zwischen dem 7. und 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Und ich erhalte Antworten auf Fragen, die mich, als Historie-Ignoranten, immer mal wieder ratlos gelassen haben: Wir kann es sein, dass um 1600 Spanien und Portugal die Welt unter sich aufteilen, die Niederländer sich in Indonesien breit machen konnten, die Briten einmal die halbe Welt beherrschten?

Gelegentlich habe ich auch gestutzt. Etwa als ich lese, dass im Jahr 221 v.u.Z. der König von Qin China geeint habe und unter anderem die als 'Klassiker' geltenden Bücher verbrennen liess. Gab es damals in China wirklich schon Bücher? Übrigens: Die erste Pest ereignet sich im Mittleren Orient und Europa im Jahre 541 und verschwindet um 850 wieder. "Um 610 herum hat eine ähnliche Epidemie China am anderen Ende Eurasiens getroffen und die dortige Bevölkerung um ein Drittel dezimiert. Dann vergisst die Welt fünf Jahrhunderte lang diese Plage und die überlebenden Bevölkerungsgruppen verlieren ihre teuer erkaufte Immunität ...". Die Geschichte könnte uns schon einiges lehren!

Das Goldene Zeitalter des Islam (von 650 bis 950) wurde begleitet von einer 'grünen islamischen Revolution' und das meint, dass nicht nur der Raum zwischen Pakistan und Spanien unter einer Autorität steht, sondern sich ungefähr entlang eines Breitengrades erstreckt, also klimatisch homogen ist. "Reis, verschiedene Hirsearten, Sorgho, Wassermelone, Zitrone, Orange, Artischocke, Spinat, Zuckerrohr, Aubergine, Mango, Kokosnuss, Banane und Baumwolle profitieren von einer schnelleren Verbreitung von Indien nach Europa über die Levante, ebenso wie in umgekehrter Richtung."

Zwischen 950 und 1200 wächst die Welt immer mehr zusammen. Das hat wesentlich mit dem Handel zu tun: Dieser befördert den Fortschritt, denn er ermöglicht, voneinander zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Zum Beispiel werden Tee und Baumwolle aus Asien gefragter und haben erfreuliche Nebeneffekte. "Für Tee muss man Wasser kochen, das dadurch desinfiziert wird – so werden Krankheiten des Verdauungsapparats eingedämmt, die seit den Anfängen der Urbanisierung auftreten" Und: "Was die Baumwolle anlangt, so können dank der Professionalisierung indischer Weber qualitativ hochwertige Kleidungsstücke hergestellt werden, die preiswerter sind als die aus dem zuvor verwendeten Hanf und leicht waschbar: Flöhe und andere Überträger von Krankheiten verschwinden."

Neben dem Handel haben auch kriegerische Eroberungen zu Innovationen geführt. So übernahmen und integrierten etwa die Mongolen, die zwischen 1200 und 1450 ein riesiges Reich beherrschten, das  militärische Wissen, das sie vor Ort antrafen und sicherten die Handelsrouten – Verbindungen, deren sich auch die wieder ausbrechende Pest bedient. Vier Jahrhunderte lang wütete sie in Eurasien und "löscht in Zehn- bzw. Zwanzigjahreszyklen ein Viertel oder gar die Hälfte der Bevölkerung ganzer Landstriche aus. Ihr letztes Aufflammen in Europa, 1720-22, tötet mehr als jeden zweiten Bewohner von Marseille."

Die französische Originalausgabe der Globalgeschichte des Menschen erschien 2019, die gegenwärtige Covid-19 Pandemie hat also keinen Eingang gefunden in Laurent Testots Überlegungen, doch da sich dieses Werk mit Grundsätzlichem befasst, gelten die planetaren Grenzen, die der Autor ausgemacht hat, nach wie vor. Es sind dies die Erderwärmung, das Artensterben sowie sozio-ökonomische Verknappung und Brüche. Sie alle rühren von einem grundsätzlich falschen Bild her, das der Mensch von sich hat: dass er Herr der Welt und nicht Teil von ihr ist.

Laurent Testot ist ein nüchtern argumentierender Mann, dessen Blick in die Zukunft nicht von Hoffnung, sondern von Realismus geprägt ist: "Wir haben noch ein paar Jahrzehnte, um die Erde zu retten – zwar nicht vor dem ökologischen Desaster, denn dieses hat bereits stattgefunden, aber wir können zumindest beweisen, dass Menschsein bedeutet, seine Würde zu bewahren und zu retten, was möglich ist."

Fazit: Ein überaus nützliches Werk, das hilft, sich in einem grösseren Ganzen zu sehen und von den Alltagsaufgeregtheiten nicht erschlagen zu werden.

Laurent Testot
Die Globalgeschichte des Menschen
Vom Faustkeil zur Digitalisierung
Reclam, Ditzingen 2021

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