Wednesday, 26 May 2021

Menschwerdung eines Affen

"Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung" heisst der Untertitel dieser Memoiren, von denen sich die Autorin fragt: "Ist ein Text noch eine Autobiografie, wenn er sich bemüht, Elemente einer autobiografischen Fremdbeschreibung zu liefern?" Klingt etwas arg akademisch, finde ich, doch die nachfolgenden Zeilen machen deutlich, was es mit diesem Buch auf sich hat: "Tatsächlich ist mein Text der Versuch nachzuvollziehen, wie im Austausch mit den Subjekten meiner Forschungen zahlreiche sehr befremdliche und sehr beunruhigende 'Ichs' entstanden, die mich fragen liessen, welche Wahrheit, welche Kritik, welches Versprechen und welches Versagen diese fremden Namen bergen, die mir gegeben wurden."

"Affe" und "Kannibale" war die Ethnologin in Kenia und Uganda, das war Ende der 1970er, von Frauen und Männern genannt worden. Statt diese Bezeichnungen zurückzuweisen, versucht sie, sich mit den Augen ihrer Forschungsobjekte zu sehen. Ein nobles Unterfangen, das Nicht-Akademikern vermutlich nicht in den Sinn kommen würde. Auch den kolonialen Kontext berücksichtigt die Autorin, die während einiger Jahre zwischen Berlin und Ostafrika pendelt und das als "festen Rhythmus der Zerrissenheit" (klingt ziemlich dramatisch) bezeichnet.

Heike Behrends Einleitung wirkt auf mich sensibel, differenziert und bedeutungsschwanger, ganz so, als ob noch den simpelsten Vorgängen Bedeutung gegeben werden müsse. Mir kam es vor als würde ich so etwas wie "die heiligen Hallen der Ethnologie" betreten. So kommt sie nicht einfach nach Hause und schreibt die Monografie, sondern: "Dieses Schreiben hat Michael Harbsmeier als 'Heimkehrritual' bezeichnet, durch das die Heimgekehrte 'gereinigt' wird und sich reintegriert." Fehlt nur noch der Weihrauch ...

Davon abgesehen ist dieser Bericht über vier ethnografische Forschungsreisen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren erfreulich nüchtern geschrieben und machte mich auch immer mal wieder laut herauslachen. Etwa darüber, dass die neue asphaltierte Strasse, auf der vornehmlich Ziegen verkehrten, genau bis zum Geburtsort des Präsidenten führte, "keinen Schritt weiter."

Neben den Regeln der Höflichkeit war ihr auch die tonale Sprache (wer sich schon einmal in einer solchen versucht hat, weiss, dass das keine einfache Sache ist) fremd, was die Kommunikation schwierig machte. Sie ist also auf einen Dolmetscher angewiesen, was auch im besten Falle die Lage zusätzlich verkompliziert. Besonders aufschlussreich dünkte mich, dass bei den Bewohnern der Tugenberge nicht die individuelle, sondern die soziale Biografie im Vordergrund steht. "Sie sahen sich eher von aussen und betrachteten ihre Person als opak, 'als ein geschlossenes Gefäss, in das man nicht hineinschauen kann.' Ihr 'Ich' gehörte vor allem den anderen."

Nach und nach wird sie zur Chronistin befördert und ihr aufgetragen, dies und jenes aufzuschreiben. Obwohl ich selber einmal in Afrika gearbeitet habe (fürs IKRK), fühlte ich mich gelegentlich an thailändische Gepflogenheiten erinnert. Dass sich ältere Frauen mit 'Was essen die Grossmütter heute?' begrüssen hat dort sein Äquivalent in 'Hast du schon gegessen?', obwohl das Motiv, das Heike Behrend ausmacht (Hunger, knappe Nahrung), dort ein anderes ist (In Thailand dreht sich alles ums Essen, ständig; in meinen Thai-Kursen lernte man fast ausschliesslich Ausdrücke für Nahrungsmittel).

Sie lernt Sitten und Gebräuche kennen, schämt sich für den Fauxpas, ihren Teller leer gegessen zu haben und ich realisiere zum ersten Mal, wie eigenartig ich Ethnologen finde (ich war selber einmal für zwei Semester für das Fach eingeschrieben, doch damals fiel mir das nicht auf): Sie passen sich einer fremden Kultur an, akzeptieren Sitten und Hierarchien in einem Ausmass, das mir absurd vorkommt. Zugegeben, mir fehlt die Neugierde für das Funktionieren von Gesellschaftssystemen generell (es hat erstaunlich lange gedauert, bis ich das verstanden habe) und insbesondere für Rituale, die ich in jeder Kultur als Theater wahrnehme (ich bin kein Fan von Inszenierungen).

Mein besonderes Interesse an diesem Band gehört dem Bericht über "Fotografische Praktiken an der ostafrikanischen Küste". Auch, weil ich mich an das Modul "Understanding Pictures" während meines Studiums in Cardiff erinnerte, wo offenbar wurde, wie abhängig das Bilderlesen von der Kultur ist (afrikanische und asiatische Auffassungen waren selten kompatibel mit westlichen), was sich auch in diesem Bericht zeigt. Er beginnt mit einer schönen Geschichte über das "Berlin Studio", das Heike Behrend Anfang der 1980er-Jahre in Nakura entdeckte und leitet dann über zur Rolle die die Fotoporträts, die ihren späteren Text begleiten sollten, einnehmen, nämlich "eine Art Korrektiv zu meinen Interpretationen". Und: "Die Bilder besassen das Potential, meinem Text immer wieder in den Rücken zu fallen." Eine ungewöhnliche und anregende Sichtweise, denn Bilder werden im Zusammenhang mit Text eher selten eigenständig wahrgenommen und haben zumeist (leider) eine untergeordnete, zudienende Funktion.

Menschwerdung eines Affen ist auch eine aufschlussreiche Ethnografie-Geschichte, die unter anderem aufzeigt, dass auch das rücksichtsvollste Vorgehen und die besten Absichten zu absolut unvorhergesehenen Resultaten führen können. Nicht nur in der Ethnografie, auch in der Dokumentarfotografie wie das Walker Evans und James Agee während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren erlebten. Verblüfft hat mich, wie bereitwillig die Autorin gelegentlich Erklärungen akzeptierte, die ich selber für Humbug halte. "Wir wurden fast immer frontal zur Kamera aufgenommen, den Blick direkt auf das Objektiv gerichtet. Das entspräche den Regeln der Höflichkeit, erklärte ein Fotograf." Eher einem Mangel an Fantasie, würde ich sagen.

Um mögliche Konflikte zu vermeiden, fotografiert sie selber nicht; Fotos brauchte sie gleichwohl, für ihr Archiv. Fündig wird sie in Studios, wo sie Bilder erwirbt, die nicht abgeholt worden waren. "In Kenia zahlt der Kunde nach dem Fototermin den halben Preis und tilgt den Rest bei Abholung. Da viele Leute den Akt des Fotografierens an sich schon geniessen, weil er etwas als Ereignis markiert und aufwertet, kommt es relativ häufig vor, dass die fertigen Bilder nicht abgeholt werden." Das Fotografiert-Werden als Erfahrung genügt! Wie wunderbar!

Heike Behrend
Menschwerdung eines Affen
Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung
Matthes & Seitz Berlin 2021

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